Tänzerin des Lasters

Das Künstlerkollektiv »MS Schrittmacher« rückt Anita Berber in den Fokus seiner Arbeit

  • Karin Schmidt-Feister
  • Lesedauer: 3 Min.

»Anita Berber - das Gesicht zur grellen Maske erstarrt dem schaurigen Gelock der purpurnen Coiffure - tanzt den Koitus«, schreibt Klaus Mann in seinem Lebensbericht »Der Wendepunkt«. Wer war die skandalumwitterte »Göttin der Nacht« jenseits von Nackttanz-Klischee, Drogenexzessen und dem berühmten Porträt, das Otto Dix 1925 von ihr malte? Worin bestand die Faszination der Tänzerin des Lasters, der Ekstase, des Grauens? Wie und in welchem Kontext tanzte Anita Berber?

Werk und Wirken der 1899 in Leipzig geborenen Tänzerin, Choreografin und Schauspielerin wird vom Künstlerkollektiv »MS Schrittmacher« jetzt erstmals (dank umfangreicher Förderung der Bundeskulturstiftung Tanzfonds Erbe) in fünf verschiedenen Formaten in den Fokus gerückt.

Choreograf Martin Stiefermann bezeichnet sein mehrteiliges Projekt zutreffend als »Retro/Perspektive«. Er und sein engagiertes Rechercheteam haben in Archiven in Wien, Köln und Berlin aufregende Entdeckungen gemacht, so dass die verlorenen bzw. verfälschten Spuren einer Tänzerin jetzt in den Arbeitsergebnissen erstaunlich offengelegt und sinnvoll gegenwärtig werden. »Das Körperwissen und unsere Sehgewohnheiten haben sich in den letzten hundert Jahren enorm verändert. Wir versuchen die Essenz der Tänze von Anita Berber sichtbar zu machen«, so Martin Stiefermann.

In der kommentierten »Lecture Demonstration« geben er und die klassisch ausgebildete, vielseitig modern tanzende Brit Rodemund (stimuliert durch ein gemeinsames Interesse an forschender Partnerschaft) einen spannenden Einblick in die künstlerische Entwicklung des Solotanzes der Berber. Im Anita-Berber-Archiv Berlin entdeckte Stiefermann die Studie »Anita Berberová« (1930) des tschechischen Choreografen und Autors Joe Jencík. Inspiriert von dessen Aufzeichnungen tanzt Brit Rodemund »Kokain« (1922) in vielfachen Brechungen und energetischen Schüben von der zuckenden Rückenlage diagonal und kreisförmig im Raum, lasziv dem Betrachter fokussierend bis zum jähen Zusammenbruch.

Die Tanzperformance »Anita Berber - Sie trägt die Nacktheit im Gesicht« (Uraufführung) rückt Facetten der oft miss- und unverstandenen Berber zwischen Straße, Salon und Bühne in den Mittelpunkt. Die ihrerseits schillernden Tänzerinnen und Schauspielerinnen Cora Frost, Brit Rodemund und Maria Walser werden den Kosmos Berber in einer Collage mit Originaltönen im Kontakt mit den Zuschauern in Szene setzen. Richard Oswald entdeckte die Berber und machte sie zum Stummfilmstar; sein Episodenfilm »Unheimliche Geschichten« (1919) lenkt den Blick auf Berbers umfängliches Filmschaffen (Filmvorführung am 22. Juni).

Fotos, Figurinen und Selbstporträts künden von der starken Schminkmaske der Stummfilm-Ikone und des drogenabhängigen Tanzstars Anita Berber, die in Kabaretts und Hotels quer durch Europa und im Nahen Osten auftrat. Die fragile Anita Berber war extrem kurzsichtig, sie hat ihr Publikum wohl nie genau gesehen. Zehn Jahre ihres kurzen Lebens war sie in ihren Solo-Kreationen (»Kokain«, »Morphium«, »Salome«, »Astarté«) kompromisslos dem Bösen wider die herrschende gesellschaftliche Moral auf der Spur. Das Wesen des menschlichen Ichs brachte sie, »mit entblößter Seele« tanzend, radikal in ihren streng durchkomponierten Soli zum Vorschein. Ihr Sein spaltete Publikum wie Kritiker.

1928 erlitt sie auf einer Persien-Tournee in Beirut einen Zusammenbruch. Freunde brachten die Schwerkranke (Schwindsucht, Tuberkulose) über Prag nach Berlin (an ihrem Wohnhaus Zähringerstraße 13 in Wilmersdorf, wo sie von 1919 bis 1928 lebte, befindet sich heute eine Gedenktafel). Am 10. November 1928 starb Anita Berber im Bethanien-Krankenhaus Berlin-Kreuzberg; in der Kapelle (dem jetzigen Studio 1) war sie aufgebahrt.

Dass »MS Schrittmacher« mit ihrer »Retro/Perspektive« im jetzigen Kunstquartier Bethanien Anita Berbers radikalen Tanz neu beleuchten und neu beleben, verdient Aufmerksamkeit. Das Publikum hat an zehn Tagen - mit der Tanzperformance, der Lecture Demonstration mit Live-Klavierbegleitung, der Filmvorführung »Unheimliche Geschichten« (1919) und der abschließenden Podiumsdiskussion »Anitas Erben - zur künstlerischen Radikalität heute« sowie durch die deutschsprachige Erstveröffentlichung der Anita-Berber-Studie von Joe Jencík - Gelegenheit, hinter der Maske dem Menschen Anita Berber zu begegnen.

Anita Berber - Retro/Perspektive. Ein Blick zurück, nach vorn. 18. bis 29. Juni, Studio 1 im Kunstquartier Bethanien, Mariannenplatz 2, Kreuzberg, Reservierung unter (030) 40 98 31 95.

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