Lange Bälle ins Nichts

Abseits! Die Feuilleton-WM-Kolumne

  • Jochen Schmidt
  • Lesedauer: 3 Min.

Fußball ist auch deshalb so ein unvergleichlicher Sport, weil man ihn genießen kann, ohne überhaupt zu wissen, was vor sich geht. Das ist wie in der Oper: Man versteht kein Wort vom Gesang, aber es klingt nach Hochkultur.

Meine Tochter guckt bei dieser WM, so oft sie kann, mit, und bei ihren Nachfragen stelle ich immer größere Wissenslücken fest, genau wie beim Matheüben, wenn ich nach und nach herausbekomme, dass man heutzutage in der fünften Klasse noch keine Bruchrechnung lernt und nicht weiß, wie man eine einfache Gleichung umformt.

Neulich fragte sie, warum die Spieler den Ball manchmal nach hinten spielen, in die Richtung des eigenen Torwarts, wenn das Tor, in das sie treffen wollen, doch in der anderen Richtung liegt. Dann habe ich ihr erklären müssen, warum in einer Nationalmannschaft Spieler aus verschiedenen Vereinen spielen. Dann wunderte sie sich, dass das Spiel nicht nach genau 90 Minuten zu Ende war, sie hatte die Sekunden rückwärts gezählt, und es ging einfach weiter.

Einmal habe ich mit ihr das Champions-League-Finale Bayern München gegen Inter Mailand geguckt und gerufen: »Hau ihn um!«, als ein italienischer Stürmer in den Strafraum durchbrechen wollte, da hat sie geweint, weil ich gesagt habe, dass einer gehauen werden soll. Obwohl sie offenbar gar nicht weiß, worum es geht, guckt sie begeistert mit, genauso, wie ich ihr Tom Sawyers vorgelesen habe, und sich nach drei Vierteln des Buchs herausstellte, dass sie gar nicht hingehört hatte, sie mochte einfach den Akt des Vorlesens. Ehrlich gesagt, war das Buch auch ziemlich langweilig, bei Kinderbüchern weiß man immer schon Seiten vorher, was passieren wird und die Hälfte der Sätze ist überflüssig.

Bei der WM ist meine Tochter gegen Costa Rica, weil ich ihr übersetzt habe, dass das »Reiche Küste« heißt, was für sie angeberisch klingt. Dass die eigentlichen Angeber die Italiener sind, half nichts, sie feuerte sie an.

Als drittes auf der Couch sitzt meine Freundin, die nach einem 3:0 sagt, jetzt lohne es sich ja nicht mehr, weiterzugucken. Dabei sah man doch bei Algerien gegen Südkorea, dass Mannschaften wie Südkorea einfach mindestens drei Gegentore als Weckruf brauchen, um selbst mitzuspielen. Das Spiel begann so schlecht, dass ich mich dafür hasste, nicht abzuschalten. Stockfehler, Fehlpässe, sinnlose Fouls, lange Bälle ins Nichts, Schiedsrichterfehlentscheidungen. Wie sollte hier ein Tor fallen? Aber daraus wurde dann ein 4:2 für Algerien, und Südkorea hätte das Spiel sogar noch gedreht, wenn es 900 Minuten gedauert hätte. Wieso guckt man sich das an? Weil man eben alles guckt.

Ich habe schon Angst vor dem Ende der WM, wenn ich wieder auf Eurosport U17-Freundschaftsspiele gucke. Wie schlecht man Fußball spielen kann, und es ist trotzdem noch Fußball! Es wäre ja ein Spiel denkbar, bei dem jeder Ball sofort ins Aus geschossen wird bzw. beim Gegner landet, ohne jeden Torschuss, alle Ecken direkt ins Aus, Freistöße in die Mauer, Abschläge ins Nichts, und keine Zuschauer im Stadion, man ist mit dem Elend völlig allein. Aber selbst so ein Spiel würde ich gucken, und meine Tochter auch.

Ich weiß das, weil ich sogar einmal in der Woche bei so einem Spiel mitspiele, beim Training der Fußballnationalmannschaft der Autoren, das ich als so aufregend empfinde, und das mich seelisch manchmal so mitnimmt, dass ich noch drei Nächte daran denke.

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