Faire Mobilität unter unfairen Bedingungen

Eine Beratungsstelle des DGB versucht in mehreren Städten betrogenen Beschäftigten aus Osteuropa zu helfen

  • Knut Henkel
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Europäisierung des Arbeitsmarktes ist auch in Deutschland nicht zu übersehen. Doch fair entlohnt werden die Beschäftigten aus anderen EU-Staaten längst nicht immer. Ein Fall aus Hamburg.

Zwei Frauen bleiben bei einem der Plakate stehen, die an Holzlatten genagelt auf dem Boden vor dem Fabrikgelände liegen. Sie lesen, was darauf steht und diskutieren lebhaft, bevor sie wieder Kurs auf das Werkstor von Schwarz Cranz nehmen. Das fleischverarbeitende Unternehmen ist einer der großen Arbeitgeber in Neu Wulmstorf, einer Gemeinde im Südwesten Hamburgs.

»Seit Jahren kommen dort Leiharbeiter zum Einsatz, und wir erfahren über Kollegen der Stammbelegschaft, unter welchen Bedingungen sie arbeiten und woher sie kommen«, erklärt Lutz Tillack. Er hat die Transparente und die Plakate mitgebracht, die auf dem Weg zum Werkstor liegen und steht mit einigen Kollegen von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) mit dem Megafon davor. Die Sonne steht hoch am Himmel, und gleich ist Schichtwechsel. Dann werden die Arbeiter und Arbeiterinnen das Tor passieren, das vom Werksschutz und einem elektronischen Sicherheitssystem geschützt ist.

Genau der richtige Zeitpunkt für die Kundgebung, mit der Tillack und Jochen Empen auf die Rechte der Arbeitnehmer und ihr Angebot aufmerksam machen wollen. Empen ist Berater des DGB-Projekts »Faire Mobilität«, das sich an Arbeitnehmer aus EU-Ländern richtet, die sich auf dem deutschen Arbeitsmarkt erst zurechtfinden müssen. An Polen, an Ungarn, an Bulgaren, an Rumänen, die werden mit Flyern und Plakaten auf das Beratungsangebot in ihrer Muttersprache aufmerksam gemacht. Jeder und jedem, die oder der eines der beiden Werkstore in der Justus-von-Liebig-Straße in Neu Wulmstorf passiert, wird versucht ein Flyer zuzustecken. Das wird hinter dem Zaun genau beobachtet und viele der Neuankömmlinge winken nur ab, andere lesen wie die beiden Frauen aus Polen hingegen genau, was auf den Plakaten steht und wohin sie sich wenden können.

»Derzeit beraten wir eine Gruppe von 20 rumänischen Arbeitern, die beim Personaldienstleister Bir Service GmbH angestellt sind und bei Schwarz Cranz arbeiten«, erzählt NGG-Mann Lutz Tillack. »Wir wissen aber auch, dass es polnische, ungarische und bulgarische Arbeiter und Arbeiterinnen hinter dem Werkszaun gibt«, so der schnauzbärtige Mann mit der knallroten NGG-Kappe und dem Megafon. Tillack weiß von drei fleischverarbeitenden Betrieben in der Region, in denen Beschäftigte aus Osteuropa eingesetzt werden. Über NGG-Kollegen erhält er Informationen und weiß, dass die Gruppe der osteuropäischen Arbeiter bei Schwarz Cranz die größte ist. »Deshalb stehen wir hier. Bereits im März haben wir vor dem Werkstor Flyer in vier Sprachen verteilt, aber auch vor dem Gebäude, wo der Personaldienstleister, die Bir Service GmbH, ihren Sitz hat«, so Tillack. Der befindet sich nur einen Steinwurf von dem Werkstor entfernt in der Gottlieb-Daimler-Straße. Das Unternehmen mit dem Stammsitz Lübeck hat mit Schwarz Cranz einen Werkvertrag abgeschlossen und versorgte den Schinken- und Wursthersteller mit billigen osteuropäischen Arbeitskräften.

Abzockt bei Lohn und Unterkunft

Jochen Empen greift zum Megafon, um die gerade zur Arbeit Kommenden und diejenigen, die die Kleinbusse besteigen, um in die Unterkünfte gebracht zu werden, auf polnisch über das Beratungsangebot von »faire Mobilität« zu informieren. Einige der Arbeiter nicken, sie scheinen verstanden zu haben. Andere schauen interessiert zu der kleinen Kundgebung von einem guten halben Dutzend Gewerkschaftern mit roten Fahnen hinüber. Für Gesprächsstoff in den Unterkünften scheint so zumindest gesorgt, und auch ein paar Flyer hat das Team von Lutz Tillack hier und da verteilen können. »In den nächsten Tagen werden wir sehen, ob sich Leute mit ihrem Arbeitsvertrag und den Lohnabrechnungen an uns wenden, um sich Hilfe zu holen«, sagt Empen.

Doch schon wenige Tage später bricht das Chaos rund um das fleischverarbeitende Unternehmen Schwarz Cranz aus. Erst protestieren rund 100 Arbeiter gegen schlechte, kostspielige Unterkünfte und zu geringe Löhne, dann meldet das Unternehmen Bir Service GmbH Insolvenz beim Amtsgericht Tostedt an. »Folgerichtig ist nun der Insolvenzverwalter für die Ansprüche der Arbeiter verantwortlich. Doch von denen sind bereits viele frustriert in ihre Heimatländer zurückgekehrt«, sagt Mirela Barut von Arbeit und Leben Hamburg. Der Träger sitzt im Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof, nur ein paar hundert Meter von Haupt- und Busbahnhof entfernt. Barut ist zuständig für rumänische Beschäftigte und berät auch Florin Tirt.

Der 29-jährige Rumäne kämpft um die Anerkennung seiner Forderungen. Mit Erfolg, denn der diplomierte Sportlehrer aus Oradea hat zumindest den Lohn für den Juni vom Insolvenzverwalter erhalten und möchte nun noch das Geld für strittige Abzüge und die Einstufung in eine höhere Steuerklasse erhalten. »Ich will in Deutschland bleiben, will mir eine neue Arbeit suchen und brauche das Geld, um Deutsch zu lernen«, sagt er. Tirt hofft auf eine Chance als Fitnesstrainer oder Fußballcoach.

»So gute Voraussetzung haben nur wenige meiner Klienten«, erklärt Mirela Barut. Allein 30 Leiharbeiter von Bir Service sind es derzeit, die sie berät. Das sie seit dem 1. Januar 2014 mit Eintreten der vollen Freizügigkeit das Recht haben, sich in den 28 EU-Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und folgerichtig auch hier arbeiten können, wissen die meisten, so Mirela Barut. Aber schon beim Mindestlohn fängt es an. »Wer nicht weiß, wie hoch der Mindestlohn ist, kann ihn auch nicht verlangen und wer sich nicht verständigen kann, braucht Hilfe«, erklärt Barut, eine gebürtige Rumänin. Einleuchtend. Folgerichtig arbeiten Rumänen, Bulgaren, Polen oder Ungarn auch immer wieder für Löhne unterhalb der derzeit noch geltenden 7,75 Euro. Das ist der Mindestlohn in der Fleischwirtschaft.

Mit der Einführung des flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro am 1. Januar 2015 wird er hinfällig. Doch bei der Bir Service GmbH wurde laute Barut auch schon für 6,80 pro Stunde gearbeitet und teilweise wurden von dem kargen Lohn noch Arbeitskleidung, der Zugangschip zum Werksgelände und die Wohnung abgezogen. Bis zu 350 Euro im Monat für »Fremdmiete« wurden Arbeitern für ein Bett in einer Massenunterkunft abgezogen, so Barut. Horrende Summen, die dafür sorgten, dass auf den Lohnzetteln nur 400 oder 500 Euro am Monatsende übrigblieben. Auch Zuschüsse in bar, die oft nicht nachprüfbar sind, sind dort laut Barut aufgeführt. Bei Florin Tirt lief hingegen alles korrekt. 8,30 Euro pro Stunde wurden abgerechnet und auch bei den geleisteten Arbeitsstunden war alles in Ordnung. Allerdings wurden mit der Abrechnung für Mai, den ersten Arbeitsmonat, 25 Euro Pfand für die Arbeitskleidung, 40 Euro Fremdmiete verrechnet sowie 77 Euro wegen Erstattung für Gesundheitsleistungen einbehalten.

Da war Tirt, der laut eigener Aussage täglich zwölf Stunden arbeitete, eine Woche krankgeschrieben. Die Kosten hätte eigentlich die Krankenkasse übernehmen müssen, bei der Tirt angemeldet ist. Insgesamt ist der Fall des hageren Rumänen jedoch einer der glimpflichen. Durch puren Zufall landete er in Deutschland: »Ein Freund, der angeworben wurde, hat mich aufgefordert mitzukommen und so bin ich in den Bus gestiegen«, erinnert er sich lachend. Nun will er bleiben, denn in Deutschland sieht er bessere Perspektiven als in Rumänien.

Hoffen auf besseres Leben

200 bis 300 Euro hat Tirt dort im Monat verdient. Die Hoffnung auf ein besseres Leben lockt viele Menschen aus Osteuropa nach Deutschland und andere EU-Länder. Mit Jobs auf dem Bau, in Lagerhallen, im Reinigungsgewerbe, der fleischverarbeitenden Industrie oder im Pflegebereich wird im Internet und auch vor Ort geworben. Doch lange nicht bei allen 72 000 Rumänen und Bulgaren, die 2013 nach Deutschland kamen, klappt es. Bine Kosus, ein Bulgare aus Hamburg-Wilhelmsburg, lebt von 650 Euro. Die bringt ihm der Job als Handlanger auf dem Großmarkt von Hamburg. Besser, als sich morgens um fünf auf den Stübenplatz zu stellen und darauf zu hoffen, dass ein Kleinbus vorbeikommt und ihn einlädt, um auf einer Baustelle aufzuräumen oder Renovierungsarbeiten für zwei, drei oder gar fünf Euro die Stunde durchzuführen.

»Tagelöhnerstrich« oder »Arbeiterstrich« werden diese innerstädtischen Jobbörsen abwertend genannt, die es in Hamburg-Wilhelmsburg, genauso wie in Berlin-Wedding oder in Dortmunds Linienstraße gibt. Hier stehen die, die über eine geringe oder gar keine Qualifikation verfügen, in Kellerlöchern hausen und beim Lohn ganz zuletzt kommen. »In Wilhelmsburg sind es vor allem Bulgaren«, so Rüdiger Winter, Projektleiter der Beratungsstelle Arbeitnehmerfreizügigkeit von »Arbeit und Leben«. Die DGB-Einrichtung hat gemeinsam mit sozialen Trägern aus Wilhelmsburg Ende Mai ein bulgarisches Nachbarschaftsfest mitveranstaltet, um die Menschen in Kontakt mit den Beratungsstellen zu bringen. Das ist ein erster Schritt, um der Ausbeutung Einhalt zu gebieten und Vertrauen aufzubauen.

Das ist in Berlin nicht anders als in Dortmund oder Neu Wulmstorf. Dort hat sich das Unternehmen Schwarz Cranz unlängst öffentlich dazu bekannt, bis zu 200 Leiharbeiter der insolventen Bir Service GmbH mit Festverträgen auszustatten. Ein Schritt in die richtige Richtung. Aber Jochen Empen und NGG-Gewerkschafter Lutz Tillack wollen erst einmal abwarten, ob das Unternehmen den Worten auch Taten folgen lässt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal