»Ich bin glücklich, wieder laufen zu können«

Dank vieler Leserspenden hat die Inderin Sheetal trotz Vergewaltigung und Mordversuchs wieder eine Zukunft

  • Hilmar König, Delhi
  • Lesedauer: 5 Min.
Sheetal, die 20 Jahre alte Inderin, wurde von drei Männern vergewaltigt und dann vor einen Zug geworfen wurde, der ihr beide Beine abfuhr. Auch dank nd-Lesern lernt sie nun wieder laufen.

Das Schicksal Sheetals, über das »neues deutschland« am 7. April berichtete, hat bemerkenswerte Anteilnahme in der Leserschaft gefunden. Sie war im September vorigen Jahres nach einer Entführung von drei Männern vergewaltigt und dann vor einen Zug geworfen worden. Die junge Frau erlitt so schwere Verletzungen, dass ihr beide Beine amputiert werden mussten. Die finanzielle Hilfe von Lesern lässt sie ihr schweres Los so gut wie nur möglich meistern.

Sheetal sitzt neben dem Chulha, dem kleinen offenen Herd aus Lehm, und bereitet das Abendessen zu. Immer wieder reibt sie sich wegen des beißenden Rauches die Augen. Sie setzt den Wok aufs Feuer, gibt etwas Öl hinein und legt dann die Knoblauchzehen und Stückchen aus unreifen geschälten Mangos dazu. Nach ein paar Minuten gießt sie eine süß-sauer-scharfe Marinade hinzu. Fertig ist das köstliche Mango-Gemüse, das sie mit Tschapatis, dem typischen Fladenbrot, und kühlem Joghurt aus Ziegenmilch serviert. Die Arbeit geht ihr flott von der Hand. »Kochen habe ich schon mit sechs Jahren gelernt, als ich Haushaltshilfe bei einer Anwaltsfamilie in der Stadt war«, erzählt sie bei einem Besuch in ihrem Dorf.

Das war vor zwei Monaten, als sie noch im Rollstuhl saß. Nun steht sie in Jaipur, der Hauptstadt des Unionsstaates Rajasthan. Sheetal ist in der Klinik der Firma Endolite, denn ihre Prothesen sind fertig. Sie hat sie anprobiert und muss damit in den nächsten Tagen und Wochen gehen lernen. Anfangs ist jeder Schritt unsicher und mühsam, aber die junge Frau hat einen eisernen Willen, beißt die Zähne zusammen und versucht es immer wieder. Es klappt zunehmend besser und das Lob von der Physiotherapeutin motiviert: »Du stellst dich recht geschickt an.«

In einer Pause zwischen den Übungseinheiten erzählt sie: »Als ich im Krankenhaus begriff, dass mir beide Beine fehlten, brach eine Welt für mich zusammen. Ich war Arbeit gewöhnt, hartes Arbeiten auf dem Bau.« Und jetzt? Eine grausame Erkenntnis. »Ich werde nie wieder gehen können. Ich glaubte, bis zum Ende meines Lebens an den Rollstuhl gefesselt zu bleiben. Nie hätte ich gedacht, dass ich eines Tages wieder laufen könnte. Doch genau das passiert jetzt. Am zweiten Tag des Übens, als es schon etwas besser ging, war ich wohl der glücklichste Mensch auf der Welt.«

Den Kauf der Prothesen ermöglichten Leser von »neues deutschland« und den »Salzburger Nachrichten«, die erschüttert von dem Schicksal der jungen Frau sofort mit Spenden auf das Verbrechen antworteten. Zwei von ihnen geben monatlich, einer ist selbst sogar arbeitslos. Dank dieser Hilfe gehen auf ihr Konto monatlich 5000 Rupien ein, rund 65 Euro, das reicht für ein einfaches Leben aus und ist sogar etwas mehr, als sie früher als Bauarbeiterin verdiente.

Anfangs konnte Sheetal gar nicht glauben, dass so viele Menschen Anteil an ihrem schweren Los nehmen und fragte immer wieder: »Fremde Menschen haben Geld für mich gespendet? Wieso denn? Sie kennen mich doch gar nicht.« Gerührt ergänzt ihre Mutter: »Während Menschen aus dem fernen Europa ihr helfen, in ein eigenständiges Leben zurückzufinden, kam von Sheetals Ex-Mann kein einziges Wort des Bedauerns, keinerlei Unterstützung. Er hat sie nicht einmal besucht.« Als er sie verließ, äußerte er, Aussöhnung komme nicht infrage. Mit einer so schwer behinderten Frau sei nichts anzufangen. Er brauche eine, die auch Wassereimer tragen, schwere Haus- und Feldarbeit machen könne.

Obwohl es jetzt schon ein paar Monate her ist, seit Sheetal erfuhr, dass Menschen aus Deutschland und Österreich ihr in ein neues Leben helfen wollen, kann sie es noch immer nicht richtig fassen. »Es ist unglaublich, aber einfach großartig. Ich bewundere alle Spender und bin ihnen so dankbar. Für mich eröffnen sich mit den Prothesen wieder Möglichkeiten. Ich kann zuversichtlicher in die Zukunft schauen. Ich bin glücklich, wieder laufen zu können, auch wenn es noch mühsam ist. Aber es geht voran. Und ich habe den Willen, diese Aufgabe zu meistern.« Den Rollstuhl nimmt sie nur für weite Strecken. Sie möchte den Menschen in Deutschland und Österreich danken. »Dil se«, ergänzt sie - von ganzem Herzen.

All das Übel in ihrem Leben, die Kinderarbeit, die Verheiratung als Elfjährige, Opfer eines Sexualverbrechens und danach vom Mann verstoßen zu werden, der Mordanschlag, durch den sie ihre Beine einbüßte und mittellos wurde, ein Bestechungsversuch, all das hat sie offenbar gestählt. Sheetal ist eine starke Persönlichkeit. Sie will nicht bemitleidet werden, sie kämpft. Doch Spuren sind natürlich geblieben: Sie leidet an heftigen Kopfschmerzen, an Phantomschmerzen in den Stümpfen sowie an Konzentrationsschwäche. Sie sagt: »Meine Gedanken wandern ständig. Es fällt mir schwer, jemandem lange zuzuhören. Und der Druck in der Familie ist groß. Mutter und mein Bruder geben mir die Schuld, dass wir in solcher Lage sind.«

Was sie nur zögerlich zugibt: An ihren Nerven zerrt die Ungewissheit, ob die Täter jemals eine angemessene Strafe erhalten werden. »Ich will Gerechtigkeit. Sie haben mir Gewalt angetan, mich entehrt und verstümmelt. Sie haben mein Leben zerstört. Dafür sollen und müssen sie büßen.«

Inzwischen hat ein neuer Lebensabschnitt für die hübsche junge Frau begonnen. Seit Mitte Juli lernt sie an einer Internatsschule und holt nach, was sie als Kind wegen der Armut ihrer Familie versäumte. Auch das ist wieder eine große Herausforderung für sie. Sheetal hat nur den Abschluss der 5. Klasse und sitzt nun als 20-Jährige mit 12- und 13-Jährigen auf der gleichen Schulbank. Aber sie weiß, eine wirkliche Perspektive, ihr Leben grundsätzlich zu ändern und den neuen körperlichen Bedingungen anzupassen, hat sie nur, wenn sie mindestens den Abschluss der 10. Klasse schafft.

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