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Mit »Zarathustra« an die Front

»Ich verspreche ein tragisches Zeitalter«, Schau im Nietzschehaus Naumburg

  • Jens-Fietje Dwars
  • Lesedauer: 4 Min.

Manche Bücher haben eine Geschichte, andere machen Geschichte. Schon sprichwörtlich ist die Legende vom deutschen Frontsoldaten, der mit »Zarathustra« im Sturmgepäck in den Ersten Weltkrieg zog. Nur eine Legende? Oder gehört das Buch zum geistigen Rüstzeug, das den Sturz in die »Urkatastrophe« begleitet, vorangetrieben, beschleunigt hat?

»Es war so wundervoll da draußen«, notierte sich Max Beckmann am 23. März 1915 nach einem nächtlichen Gang über die menschenleeren Felder hinter der Front, »dass selbst der wilde Wahnsinn dieses Riesenmordens, dessen Musik ich immer wieder hörte, mich nicht ... stören konnte ... Ich ... lese noch etwas im Zarathustra oder im Neuen Testament.«

Die zweite Bibel sollte ein Buch für Krieger sein: »Zweierlei will der ächte Mann: Gefahr und Spiel. Deshalb will er das Weib, als das gefährlichste Spielzeug. Der Mann soll zum Kriege erzogen werden und das Weib zur Erholung des Kriegers ...«

Was uns heute peinlich erscheint, verstanden Künstler der Zeit als aktivistisches Pathos. 40 Jahre herrschte Kaiserfrieden, den man als Lähmung empfand. Schon 1909 schrieb Beckmann, sein Bruder meine, es gäbe Krieg. »Wir wurden einig, dass es für unsere heutige ziemlich demoralisierte Kultur gar nicht schlecht wäre, wenn die Instinkte und Triebe alle wieder mal an ein Interesse gefesselt würden.« Georg Heym ein Jahr später: »Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, … sei es auch nur, dass man einen Krieg begänne ... Dieser Friede ist so faul, ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.« Und im Frühjahr 1914 reimte Johannes R. Becher: »Was sollen wir noch? Die Welt wird zu enge. / ... Verflucht sei der Straßen einförmige Strenge ... / Wir horchen auf wilder Trompetdonner Stöße / Und wünschten herbei einen großen Weltkrieg.«

Der italienische Futurismus hat den Krieg 1909 als »Hygiene der Welt« gefeiert, der Konstruktivismus in Russland, der Kubismus in Frankreich und der deutsche Expressionismus nahmen die Selbstzerstörung der überkommenen Ordnung in ihrer Technik seit 1905 vorweg. Und dies in allen Künsten von der Malerei über Musik und Dichtung bis zur Architektur: Überall sprengten sie die einzelne Farbe, das Wort, den Ton aus dem gewohnten Zusammenhang, lösten die Zentralperspektive auf und schufen neue Welten aus konstruierten Versatzstücken. Wie es Nietzsche ihnen im »Zarathustra« verhießen hatte: »O meine Brüder, zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln!«

Nicht-Künstler freilich lasen das Buch weniger sublim. Seine Editionsgeschichte verrät, wie die Feier des Krieges zum Bedürfnis wird. Zunächst erschienen die drei Teile der Dichtung »Also sprach Zarathustra« separat 1883/84 in jeweils 1000 Exemplaren bei Schmeitzner in Chemnitz. Die wurden so wenig gekauft, dass sein neuer Verleger Fritzsch sie 1886 zusammenband. Den vierten Teil hatte Nietzsche 1885 in einer Privatauflage von nur 40 Exemplaren drucken lassen, mehr Leser hatte er nicht! 1891 erschien dieser Teil erstmals öffentlich bei seinem dritten Verleger, Naumann, der 1893 alle vier in einem Band herausgab. Waren 1896 erst 6000 Exemplare verkauft, so erschienen in den nächsten zehn Jahren bis 1906 weitere 55 Auflagen in jeweils 1000 Exemplaren. Bis die Verlagsrechte 1910 an Kröner übergingen, waren 75 000 abgesetzt. 1913 lag die 100. Auflage vor. In den fünf Kriegsjahren verdoppelte sich der Absatz bis Ende 1918 auf 224 000 Exemplare, davon waren 54 000 spezielle »Kriegsausgaben« in derbem Leinen. Allein 1919 erschienen 60 000 Exemplare und 1922 war die 300. Auflage erreicht.

Wir sehen: In den 18 Jahren vor Ausbruch des Weltkrieges wurden langsam aber stetig, Jahr für Jahr 5000 Exemplare der neuen Bibel verkauft. Deren Leser waren Schöngeister, die sich an der Dichtung ergötzten, zunehmend auch junge Leute, die im »Zarathustra«-Pathos die Verheißung einer neuen Zeit vernahmen. Im Krieg selbst verfünffachte sich der jährliche Absatz. Auf Schlagworte gestutzt, wurde nun erst seine Philosophie populär: die Zucht des Übermenschen, die Feier des Kriegers »Jenseits von Gut und Böse« sowie der »Wille zur Macht« wurden zu Sprichwörtern. Wenngleich nie für ein Massenpublikum. Aber darin lag das Gefährliche der Lektüre: dass sie auch einer Möchtegern-Elite von Halbgebildeten höhere Weihen für Stammtisch-Parolen bot.

Vielleicht ist es doch kein Zufall, dass die höchste Auflage des »Zarathustra« in das Jahr 1919 fällt: als der Krieg vorbei war, die Revolution der Monarchie ein Ende setzte und die Legende vom Dolchstoß in den Rücken des ungeschlagenen deutschen Heeres geboren wurde. Dem Orientierungsbedürfnis der heimkehrenden Soldaten und Offiziere, aus deren Reihen sich die Freikorps rekrutierten, kam Nietzsches Verklärung des Mannes zum heroischen Krieger jetzt erst recht entgegen. Hitlers Stunde begann zu schlagen.

So kann der Erfolg eines Buches auch ein Unglück sein - für den Verfasser und die Leser.

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