Späte Radikalisierung des Kaukasus

Den Tschetschenen war ihre Religion Antrieb des nationalen Widerstandes

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.
Die religiöse Radikalisierung der Tschetschenen kam in der Zeit der Perestroika vor allem aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten.

Es gibt keinen Kopftuchzwang in Grosny, die meisten Frauen tragen es dennoch. Zu geschminkten Lippen und gezupften Augenbrauen. Und in Tschetscheniens Hauptstadt steht inzwischen eine der größten und prächtigsten Moscheen außerhalb der arabischen Halbinsel - der Wiege des Islam. Liebevoll restauriert wurde trotz des islamischen Bilderverbots auch das kriegszerstörte Mosaik von Scheich Mansur Uschurma. Mit stechendem Blick wacht er über die Söhne der Wölfin.

Sie ist die mythische Urmutter der Tschetschenen - auch das ist mit dem klassischen Islam nicht vereinbar. Zur Hymne, die ihr gewidmet ist, führte Scheich Uschurma die Seinen Ende des 18. Jahrhunderts in den Kampf gegen die russischen Eroberer. Es war der erste unter dem grünen Banner der Propheten. Die Lobpreisung wurde später Nationalhymne der Rebellenrepublik. Die sagte sich 1991 von Moskau los und wurde erst in zwei blutigen Kriegen wieder unter das Dach der russischen Verfassung zurückgebombt.

Zum Islam wechselten die zuvor mehrheitlich christlichen Völker des Nordkaukasus erst, um nicht gegen Glaubensbrüder das Schwert ziehen zu müssen. Die neue Religion war weniger Heilslehre denn Motor des nationalen Widerstands. Den konnte auch Stalin nicht brechen. Obwohl er frühzeitig versuchte, Politik und Religion zu entkoppeln. Beides ist im Islam eng miteinander verflochten. Geistliche Führer wie Uschurma sind meist auch militärische Oberbefehlshaber.

Gegen den Willen des Generalissimus entstand parallel zum angepassten offiziellen Islam, der Religion auf Kultur und Folklore reduzieren sollte, ein Netzwerk inoffizieller Moscheen, das sogar die kollektive Vertreibung 1944 überstand. In der Perestroika Mitte der 1980er Jahre tauchte es dann aus dem Untergrund auf.

Es war auch die Zeit, in der Missionare aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten in hellen Scharen in die UdSSR-Muslimregionen einfielen und dort den Wahhabismus verbreiteten - eine fundamentalistische, militante Seitenrichtung des sunnitischen Islams, der im Nordkaukasus bis dato unbekannt war. Diese Sendboten brachten indes nicht nur den Koran mit, sondern auch Geld für Waffen und Anleitungen zum Basteln von Bomben. Gravierende soziale Probleme im strukturschwachen Nordkaukasus verschafften ihnen regen Zulauf und sorgten für zunehmende Radikalisierung der Gemeinden. Ziel ist ein islamischer Gottesstaat vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meer.

Zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit der Zentralregierung und Terroranschlägen, die als Kampf gegen die Kafiri - die Ungläubigen - deklariert werden, kam es daher nicht nur in Tschetschenien, sondern auch in den Nachbarregionen. Dort, vor allem in der von ethnischen Konflikten und Clanfehden gebeutelten Vielvölker-Teilrepublik Dagestan, hat auch der unversöhnliche Flügel der tschetschenischen Separatisten sein neues Basislager aufgeschlagen. Dies vor allem, seit in Grosny Ramzan Kadyrow mit eiserner Hand für Ordnung sorgt. Auch er beruft sich dabei auf den Islam: den traditionellen, toleranten, der sich aus dem Adat - dem Gewohnheitsrecht der nordkaukasischen Völker - speist.

- Anzeige -

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.

- Anzeige -
- Anzeige -