Hilft uns Gott, die Terroristen zu besiegen?

Glaube und Hoffnung in Zeiten des Krieges

  • Jens Grandt
  • Lesedauer: 10 Min.
Die Terroranschläge auf das World Trade Center in New York und auf das Pentagon haben das spannungsgeladene Feld der Widersprüche zwischen Religion und säkularer Gesellschaft schlagartig aufgerissen. Die Täter und ihre Hintermänner waren - wie wir aus dem Testament des mutmaßlichen Selbstmord-Piloten Mohammed Atta, aber auch aus anderen Schriftstücken und Äußerungen der Taleban erfahren haben - deutlich religiös motiviert durch eine radikalfundamentalistische Auffassung des Islam.
Nach diesem Angriff auf Identitätssymbole des Kapitalismus und insbesondere der USA hieß es, »die Nacht senkte sich auf eine veränderte Welt« (George W. Bush), nichts werde wieder so sein wie zuvor. Ob sich dieses Postulat realisieren würde, blieb abzuwarten und hing von der Reaktion der USA und ihrer Verbündeten ab. Wie sich jetzt zeigt, scheint sich in der Weltpolitik wenig geändert zu haben. Mit zunehmendem Übergang der Luftangriffe auf Machtzentren der Taleban zu Flächenbombardements obsiegte eine gefährlich bleibende militärische Gewalt gegenüber politischen Lösungsversuchen. Die aus der Demokratischen Volkspartei hervorgegangene Watan-(Heimat)Bewegung und andere progressive Kreise werden von den Verhandlungen über eine künftige Regierung in Afghanistan ausgeschlossen. Das sind alte Muster.
Und doch ist im Nachdenken über die Terroranschläge ein neues Element spürbar: Die Allgegenwart unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften mit zum Teil weit divergierenden Lebens- und Zivilisationsauffassungen wird stärker als bisher zur Kenntnis genommen. Alle von der säkularisierten Gesellschaft im 19. Jahrhundert weitgehend ad acta gelegten Glaubensfragen sind wieder aufgetaucht, selbst die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Der Muslim glaubt daran. Man kann dies nachvollziehen. Die überwiegende Mehrheit der Mohammedaner fristet ein erbärmliches Dasein in extrem unterentwickelten Ländern. Das irdische Leben bedeutet ihnen wenig oder nichts; es ist widerwärtig, Plage, Dreck. Der Tod: Erlösung.
Deshalb kann ein Sprecher der islamistischen Militärorganisation Al Qaida ungerührt feststellen: »Viele tausend junge Muslime sind begierig darauf, ihr Leben zu geben; so wie die Amerikaner begierig sind zu leben.« Ihr leidenschaftliches Aufbegehren gelte den »Ungläubigen, die die Welt beherrschen«, behauptet der islamische ldeologe Hassan al-Turabi.
Die ersten Äußerungen von George W. Bush und anderer Repräsentanten nach den Anschläge offenbarten jedoch, dass die angeblich säkularisierte Welt ebenfalls tief in religiöser Gläubigkeit befangen ist. Von Vergeltung und von einem Kreuzzug war die Rede, vom »monumentalen Kampf des Guten gegen das Böse«, sogar der Teufel geisterte wieder durch die Kommentare. Die Medien haben über den unfassbaren, unbescholtene Menschen tötenden Terrorangriff weitgehend sachlich berichtet, sie haben ihn aber auch wie ein apokalyptisches Ereignis dargestellt. Das alles erinnert an alttestamentarische Vorstellungen und mittelalterliche Exekutionen. Vieles wurde in den Wochen darauf, auch unter dem Druck kritischer (und sehr oft angefeindeter) Intellektueller, wieder zurückgenommen oder gemildert. Aber es bleibt festzustellen, dass die USA auf den von Osama bin Laden gewollten »Kampf der Kulturen« religiös reagiert haben. Sie haben sich fürs erste in seinen Glaubenskrieg hineinziehen lassen, und nicht wenige, die dem Ruf nach uneingeschränkter Solidarität folgen, fühlen sich als Missionare gefordert.
Ein Anzeichen dafür, auch in Deutschland, ist eine bemühte Aufwertung der christlichen Religiosität - als ob damit islamistischer Terror zu bändigen sei. Das Gedankenmuster, das dieser Tendenz zu Grunde liegt, ist folgendes: Ein streng gläubiger lslamist könne mit einer Gemeinschaft, die an einen anderen Gott glaubt, eventuell noch umgehen, aber gottlose Menschen sind für ihn nichts anderes als Tiere. Wenn wir Europäer wieder mehr zu Gott fänden - und das Wertedefizit in der westlichen Welt spräche dafür -, könnten die Reibungsflächen zwischen Orient und Okzident vermindert werden. So etwa argumentierte der Publizist und Islam-Interpret Peter Scholl-Latour in einer TV-Talkshow.
Das Makabre an Scholl-Latours Begründung ist eine militante Zweckbestimmung des christlichen Glaubens. Er meint, »auf den Terror im Grunde mit Antiterror antworten« zu müssen, und dazu fehle den Europäern »die Kraft der Religiosität«. Gottesglaube, Abschied von »dieser verdammten Spaßgesellschaft«, »Führerpersönlichkeiten«, darin sieht Scholl-Latour die Voraussetzungen, um dem Islam, den er grundsätzlich für aggressiv hält, auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Bedeutet dies essenziell: Wir müssen den Terroristen gleich werden?
Weiß man, dass Scholl-Latour seine Erziehung in einem Dominikanerkonvent genoss und danach in Indochina als Fallschirmjäger in der französischen Fremdenlegion diente, erklärt sich die Herkunft dieser sonderbaren Empfehlungen und ihre Nähe zur Kreuzzugsmentalität. Da schließt sich der Kreis zu George Bushs erster affektiver Reaktion, es gelte einen »Kreuzzug gegen den Terrorismus« zu führen. Ein Kreuzzug ist ein Heiliger Krieg - ganz wie ihn Osama bin Laden wünscht (und diesen hinsichtlich der Selbstbehauptung des Fundamentalismus auch gegenüber anderen Glaubensbrüdern führt).
Mit seiner Militanz hat sich Scholl-Latour disqualifiziert. Doch, die militanten Verstiegenheiten des selbst ernannten Islam-Experten abgezogen: Es bleibt der Aufruf zur Re-Christianisierung, den auch mancher liberale Kopf befürwortet. Göttliche Ehrfurcht als Retter in der Not? Ist in einem »Kampf der Kulturen« der Islam stärker, weil er stärker glaubt als wir? Die Reformation, die die Säkularisierung und Aufklärung eingeleitet und mit ihrer Rückwirkung auf den Katholizismus den Weg zu demokratischen Gesellschaften frei gemacht hat - alles vergeblich? Ja, sollen wir wieder zur demütigen und in vieler Weise demütigenden normativen, quasi mittelalterlichen Gläubigkeit zurückkehren?
Dass orthodoxe kirchliche Würdenträger und konservative Christdemokraten diesen Gedanken sympathisch finden, versteht sich. Sie nutzen das Entsetzen und die Ratlosigkeit angesichts der terroristischen Verbrechen, um die Kirchen etwas mehr zu füllen; das ist legitim. Wieso aber richten Tageszeitungen zusätzliche Kolumnen ein, um darüber zu diskutieren, wo Gott ist und warum wir ihn brauchen? Verstärkt wird Religionsunterricht an Schulen gefordert. Foren zur »Zukunft der Religion« werben um Besucher. Die meisten Politiker und Journalisten haben das Gut-Böse-Klischee übernommen, ganz nach der Kanzelthese, dass das Böse von außen in die - selbstredend christliche - gute Welt hineingetragen werde. Der Verweis auf das Jenseits ist, nicht anders als bei den Taleban, auch in Deutschland wieder tröstlich geworden. »Wie wird dann der Himmel sein, der nach dem Tod kommt?« fragt der Abendpastor im Klassik Radio. Antwort: »Er ist das Paradies.«
Wir beobachten, wie Glaubensaussagen und aktuelle politische Anforderungen in den öffentlichen Debatten munter gemischt werden. Aber ist die »Konjunktur des Glaubens«, über die der Politologe Wolf Lepenies anlässlich der Friedenspreisrede des Philosophen Jürgen Habermas geschrieben hat (Süddeutsche Zeitung, 27. Oktober), eine angemessene intellektuelle Antwort des Westens auf die Provokationen der Dschihad-Fanatiker?
Er bemerkt: Dass Habermas in der Frankfurter Paulskirche so nüchtern und selbstkritisch bekannte, in seinem Eintreten für die Aufklärung die Macht des Glaubens unterschätzt zu haben, sei vielen wie die Bekehrung eines Saulus vorgekommen. »Erleuchtung erfasste das Antlitz der deutschen Spitzenpolitiker, die andächtig in der ersten Kirchenreihe saßen, und es schien, als sei in diesem Jahr Pfingsten in den Oktober gefallen ... Seitdem jagen sich in den Feuilletons die Sensationsmeldungen, dass die Religion wieder in unsere glaubenlose Welt zurückgekehrt sei.«
Bezeichnend, wie unter dem anschwellenden theozentrischen Palaver ein Rationalist wie Habermas missgedeutet werden kann. »So darf man Habermas verstehen«, schrieb Bernd Ulrich im »Tagesspiegel« (21. Oktober), »Religion wird und darf nicht absterben.« Die neue Frage sei: »Wie erhalten, wie stützen und schützen wir das Christentum ... Die Verbindung von Demokratie und Religion, von Aufklärung und Christentum (ist) stärker, unsere stärkste Waffe.«
Jürgen Habermas hat einen Ausweg aufgezeigt, wie dem alten Streitfall Religion - Gesellschaft auf würdige Weise begegnet werden kann. Er sprach von der »postsäkularen Gesellschaft«, in der wir leben. Solche Begriffsfindungen sind immer zwiespältig, wie wir von der »postindustriellen Gesellschaft« oder der »Postmoderne« wissen; sie suggerieren, dass etwas zu Ende sei und etwas Neues, Gegenteiliges beginne.
Doch Habermas meint nicht, dass nun die säkulare Gesellschaft sich überlebt habe und die westliche Zivilisation wieder einer umfassenden Frömmigkeit verfalle. Er spricht von einem »Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung«. Er revidiert also keineswegs seine Überzeugung von der »fortwährenden« Säkularisierung, sondern registriert lediglich, allerdings aufmerksamer als es bisher getan wurde, »das anstößige Faktum des weltanschaulichen Pluralismus«, das es allseits anzuerkennen gelte.
Wie stellt sich Habermas den Ausgleich in Glaubens- und Weltanschauungsfragen vor? Es überrascht nicht, dass der Erfinder der Theorie des kommunikativen Handelns große Hoffnungen auf den »demokratisch aufgeklärten Commonsense« setzt, den gesunden Menschenverstand, »der sich im kulturkämpferischen Stimmengewirr gleichsam als dritte Partei zwischen Wissenschaft und Religion einen eigenen Weg bahnt«.
Das klingt ein bisschen idealistisch, aber es handelt sich ja auch um den Wettstreit von Ideen, der, so Habermas, nur dann nicht zum »Nullsummenspiel« wird, wenn die Kontrahenten eine gemeinsame Sprache entwickeln, um sich verständlich zu machen. Das setze voraus, dass die Bürger »mit ihren weltanschaulich imprägnierten Überzeugungen«, wie es an anderer Stelle heißt, »die Perspektive der jeweils anderen (Seite) einzunehmen« vermögen. Deshalb müssen sie ihre Anliegen und Vorstellungen übersetzen«. »Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich im Modus der Übersetzung.«
Trotz guten Willens gelinge diese Übersetzung - noch, fügt Habermas ein - nicht in jedem Fall. »Diese Ambivalenz kann auch zu der vernünftigen Einstellung führen, von der Religion Abstand zu halten, ohne sich deren Perspektiven zu verschließen. Diese Einstellung kann die Selbstaufklärung einer vom Kulturkampf zerrissenen Bürgergesellschaft in die richtige Richtung lenken. Die postsäkulare Gesellschaft setzt die Arbeit, die die Religion am Mythos vollbracht hat, an der Religion selbst fort. Freilich nicht in der hybriden Absicht einer feindlichen Übernahme, sondern aus dem Interesse, im eigenen Haus der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn entgegenzuwirken,«
Die moralischen Werte des Christentums wie jeder anderen Religion oder Weltanschauung sind zu achten. Auch Atheisten sollten nicht in überheblicher Manier den Glauben anderer Menschen gering schätzen; oft glauben sie ja selber, nur an andere Ideen oder profane Äquivalente des Religiösen. Und vergessen wir nicht, dass die ersten Vorstellungen von einer sozial gerechten Gesellschaft, auch die ersten Vorstellungen von einer freien, kommunistischen Menschengemeinschaft von Christen entwickelt und zum Teil praktiziert wurden.
Nicht nur der islamistisch motivierte Terror, auch die durch massenhafte Migration ins Land getragene Religiosität anderer Glaubensrichtungen legt nahe, dass wir uns den Fragen des Glaubens aufs Neue und mit großer Toleranz stellen. Das kann eine Bereicherung sein. Aber wäre mit der »Rückbesinnung« auf Gott auch nur ein Problem der Gegenwart gelöst?
Nein, die von manchen Leuten geforderte Rückkehr zur Religiosität, gar in der Absicht, die Kampfkraft des Abendlandes zu stärken, wäre nur die Kehrseite der Medaille, auf deren Relief Osama bin Laden prangt und sein Spruch von der »Schlacht zwischen dem Glauben und dem Unglauben«, der mit dem 11. September begonnen habe und der sich, nach der letzten Äußerung des Guru, gegen Juden und Christen richte.
Dabei hat der von den Taleban proklamierte »Kampf gegen die satanische Welt« des Westens auch etwas Verlogenes an sich. Wie die Zerstörung der Buddha-Statuen in der Nähe von Kabul zeigt, wie Verbote, Folter, Morde im eigenen Herrschaftsbereich grausam vorführen, zielt der Heilige Krieg der Al Qaida auch auf andere Glaubensbrüder. Die bis zur Aufopferung fanatische Glaubensstärke des Dschihad-Kämpfers mag für die einzelne Person zutreffen.
Sieht man die islamische Bewegung im globalen Interessenkonflikt, erweist sich die Strategie des Terrors als Schwäche. Sie kann auch als ein Akt der Verzweiflung angesehen werden, als ein letztes Aufbäumen vor den Konsequenzen der »fortschreitenden Säkularisierung«, die nicht mehr aufzuhalten ist, weder in Europa noch in Asien oder Afrika, und die den noch weitgehend fundamentalistischen Part des Islam an den Rändern aufdröselt. Die Feldzüge der Clans und Koranschulen sind vielleicht vergleichbar mit den Religionskriegen im Europa des 16. Jahrhunderts. Damals wie heute im Orient geht es nicht um eine Neutralisierung oder gar Auflösung einer Weltreligion, aber es bleibt zu hoffen, dass der Islam, der in seiner langen Geschichte noch keine Reformation erfahren hat, am Ende zu einer »aufgeklärten« Religiosität findet.

Der Autor ist Philosoph und Wissenschaftsjournalist und lebt in Berlin.
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