»Dumm gelaufen«

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 12 Min.
Noch einmal der Fall Petra S. - eine von drei Lehrerinnen, die in Sachsen wegen USA-kritischer Meinungen gemaßregelt wurden

Als am 11. September in New York das Leben Abertausender Menschen vom Wahnsinn buchstäblich zertrümmert wurde, war das eine Tragödie. Was in den darauf folgenden Tagen im sächsischen Hohenstein-Ernstthal geschah, kann man nur ein Trauerspiel nennen. Der Versuch einer Rekonstruktion.
Seit zwei Jahren arbeitet Petra S. als Lehrerin für Deutsch und Geschichte sowie Darstellendes Spiel am Lessing-Gymnasium der Provinzstadt. Lessing: der Wahrheitssucher, der Kämpfer, der Erzieher, der Aufklärer. Die Schule scheint ideal für die Frau, die kaum zu verdächtigen ist, DDR-Nostalgikerin zu sein: Die allein erziehende Mutter eines elfjährigen Sohnes war zu keiner Zeit »pflegeleicht« - schon während des Studiums in Leipzig schrieb sie Jugendliteratur, unter anderem ein Hörspiel über einen kritischen Schüler, der der Schule verwiesen wurde - das trug ihr den IM »Heine« ein, der über sie berichtete.
Am 12. September 2001 gibt Petra S. eine Geschichtsstunde. Am Morgen des 14. September verlässt sie das Lessing-Gymnasium, um nie mehr zurückzukehren - Suspendierung, Abmahnung, Versetzung.

Gespräch mit Klaus Hoppe, Direktor des Lessing-Gymnasiums in Hohenstein Ernstthal

Herr Hoppe, wir recherchieren noch einmal in der Sache Petra S. Was war sie für eine Kollegin?
Sie hat ihre Arbeit gemacht.

Wie würden Sie sie charakterisieren?
Als ganz normal, nicht auffällig.

Also als keine besonders gute, aber auch keine schlechte Lehrerin?
Ja.

Was ist nun an diesem 12. September in ihrer Geschichtsstunde passiert?
Da müssen Sie im Regionalschulamt nachfragen. Dort sind dann die Gespräche geführt worden, ich bin ja nicht der Arbeitgeber. Ich weiß nur, dass im Unterricht gewisse Äußerungen gefallen sein müssen, über die sich Schüler und Eltern bei mir beschwert haben. Das habe ich dann an das Schulamt weitergeleitet.

Wie viele Schüler und wie viele Eltern haben sich bei Ihnen beschwert?
Also, ich hatte mehrere Schüler bei mir, es müssen aber auch Beschwerden direkt ans Regionalschulamt gegangen sein.

Worüber wurde Beschwerde geführt?
Na, über diese Äußerungen. Dass man von einer Lehrkraft eigentlich andere, einfühlsamere Äußerungen erwartet.

Nun ist ja nicht erwiesen, ob diese Äußerungen so gefallen sind.
Das weiß ich nicht, da müssen Sie mit dem Regionalschulamt reden.

Wieso konnte der Sachverhalt nicht an der Schule geklärt werden?
Die Beschwerden waren ja auch direkt ans Regionalschulamt gegangen, und zur endgültigen Klärung bin ich gar nicht befugt. Die Klärung erfolgte also im Amt - die Lehrerin konnte ja nicht hier in den Unterricht gehen und gleichzeitig zur Klärung ins Amt nach Chemnitz fahren, wenn Sie verstehen, was ich meine. Das war die eine Sache. Die andere: Es war ja in der Schule sofort ein riesiger Auflauf der Medien. Die ich nicht informiert habe, die auf für mich unerklärliche Weise sofort Bescheid wussten. Um das in so einem kleinen Ort nicht eskalieren zu lassen, war es natürlich besser, auch für die Ruhe der Untersuchung, dass man sie im Schulamt durchführte.

Sie meinen, die Suspendierung hat Frau S. auch geschützt?
Darauf wollte ich hinaus. Ich meine, ich wollte darauf hinaus, dass man den Abstand hatte, das Ganze dienstrechtlich in aller Ruhe zu untersuchen. Das wäre hier gar nicht möglich gewesen.
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Was geschah am 12. September im Geschichtsunterricht der 10c? Inkriminiert wird vor allem ein Satz, den Petra S. gesagt haben soll und den die »Freie Presse« Chemnitz zwei Tage später, am 14., der Öffentlichkeit mitteilte. Unter der Schlagzeile »Schüler entsetzt: Sächsische Lehrerin begrüßt Anschläge« gab sie den Satz wie folgt wieder: »Endlich haben die USA einen Denkzettel bekommen. Warum mischen sie sich auch überall ein.«
Kein guter Satz in diesen Tagen. Auch wenn man geteilter Meinung sein kann, ob er nicht in ultimo ratio einen gewissen Kern enthält, Schadenfreude ist unangemessen. Nur: Petra S. ist zu diesem Zeitpunkt weder von ihrem Dienstherren, dem Regionalschulamt in Chemnitz, noch von der Presse befragt worden. Sie gibt eine andere Darstellung, beginnend am 11. September: Wie sie gegen 18 Uhr, wohlig schlummrig nach einer Massage, im Radio eine Kurzmeldung hört, auf ein Gebäude in New York sei ein Anschlag verübt worden, wobei sie über Opfer und Ausmaß zu diesem Zeitpunkt noch nichts erfährt. Wie sie wenig später zu Hause den Fernseher anschaltet und schockiert ist, die halbe Nacht auf die Bilder starrt, irgendwann ins Bett geht, wieder aufsteht, »den Fernseher kann man abschalten, nicht das Denken. Anderntags stehen Sie vor einer Klasse, einer lebhaften, offenen Klasse, die Redebedürfnis hat, die Sie nicht abspeisen wollen, es nicht können - eigentlich wäre der Hitler-Stalin-Pakt Thema gewesen. Sie sprechen von Ihrer Betroffenheit, als Sie die Bilder sahen, das Ausmaß ahnbar wurde, die Opferzahlen hörten. Die Schüler reden über Ängste, Befürchtungen, Eindrücke. Sie versuchen, den Terroranschlag nicht im luftleeren Raum zu lassen - die Anschläge waren schrecklich, menschenverachtend, durch nichts zu rechtfertigen, und genauso verhungern täglich Tausende Kinder, gibt es Minenopfer, Kindersoldaten, und Sie sprechen über die Rolle, die die USA in den letzten 55 Jahren in der Weltpolitik gespielt hat. Sie äußern Ihre Hoffnung auf Besonnenheit. Die Stunde vergeht schnell.« 

Gespräch mit Dr. Petra Loos, Sprecherin des Regionalschulamtes

Frau Dr. Loos, was ist aus Ihrer Sicht nach dem 12. September passiert?
Eine vorerstige Suspendierung im Zeitraum der Prüfung des Vorfalls, mit dem Ergebnis, dass die Lehrkraft versetzt wurde.

Frau S. sagt, sie sei falsch zitiert worden. Zu welchem Ergebnis kamen Sie?
Die Untersuchungen haben das Ergebnis gezeigt, dass sie an eine andere Einrichtung versetzt wurde. Also ist man selbstverständlich auch diesen Aussagen, die die Schüler bzw. die Eltern gemacht haben, nachgegangen.

Frau S. hatte die Möglichkeit, dazu Stellung zu beziehen?
Selbstverständlich.

Und hat Sie sich zu dieser Äußerung bekannt?
Da war ich nicht involviert in diese Gespräche, das sind jetzt Personalmaßnahmen und Personalgespräche in Protokollen, die ich nicht eingesehen habe.

Das ist praktisch, Frau Dr. Loos.
Ja, so isses halt, Frau Matte.

Der »Spiegel« sprach von einer unsicheren Beweislage - nur deshalb sei Frau S. versetzt, und nicht entlassen worden.
Wie gesagt, in der Prüfung, in der alle gehört wurden, ist man zu dem Entschluss gekommen, dass man diese Entscheidung trifft.

Und warum?
Das kann ich Ihnen nicht sagen, das hat man so entschieden.

Es stimmt also nicht, was der »Spiegel« schrieb?
Ich möchte jetzt nicht etwas kommentieren, was ich gar nicht gelesen habe.

Ich kann Ihnen das gern faxen, wenn Sie möchten.
Nein, das möchte ich jetzt nicht.
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Gläserne Worte. Aber - tröstlich - vielleicht hat Frau Dr. Loos ja nicht Deutsch, sondern Mathematik studiert. Nahezu fröhlich stimmt die Gewissheit, dass die Schulamtssprecherin nicht in die Verlegenheit gerät, jungen Menschen die Welt erklären zu müssen. Hat Petra S., oder hat sie nicht? Hätte sie, ist davon auszugehen, dass die Auskunft der Behörde an Eindeutigkeit nichts vermissen ließe. Doch die Frage, um die es geht, ist heikel und zudem exemplarisch: Was darf eine Lehrerin? Mehr noch: Was ist eine Lehrerin? Jemand, der nur Wissen vermittelt? Neutral, also ohne eigene Meinung? »Wie denn?«, fragt Petra S., »ja, wie denn? Das geht nicht in einem Fach wie Geschichte. Nehmen Sie die alten Griechen: Was wir heute von ihnen wissen, ist nur, was sie uns wissen ließen. Ein Lehrer muss seine Schüler lehren, auch mit dem, was gedruckt ist, wach umzugehen. Er darf Schüler nicht indoktrinieren, doch er muss ihnen beibringen zu denken.«
Petra S.: geboren bei Magdeburg. Als Vierjährige hörte sie vom Vietnamkrieg, sah im »Bummi« Bilder von Lazaretten. Später demonstrierte sie gegen den NATO-Raketenbeschluss, begriff nicht, weshalb die sowjetischen SS 20 besser sein sollten. Sie erlebte das Sputnik-Verbot, erfuhr von Arbeitslagern in der SU, von Möglichkeiten, Geschichte zu fälschen. Lernte kritisch zu sein, nicht mehr zu glauben, sich eine eigene Meinung zu bilden. Ihr Ethos als Lehrerin: keine Diederich Heßlings erziehen...
Wer sich in der jüngeren deutschen Filmgeschichte auskennt, sieht sich vielleicht an »Karla« erinnert. Karla hieß die Lehrerin in dem mutigen DEFA-Film, in dem Jutta Hoffmann spielte und den die DDR auf den Index setzte. Die Hoffmann gab sie liebenswert, die grundehrliche, sperrige, unangepasste Lehrerin, weil Menschen, die Ideale leben, in der Kunst immer liebenswert sind, auch wenn es im wirklichen Leben oft nicht leicht ist, sie zu mögen. Schon gar nicht, wenn sie »der Partei« oder dem Kanzler widersprechen.
Am Morgen des 13. September, am Tag nach ihrer Geschichtsstunde, informiert Schulleiter Hoppe Petra S. über »massive Elternproteste«. Für den nächsten Tag wird sie ins Amt bestellt. Zuvor mit der Klasse zu sprechen, um den Sachverhalt zu klären, wird ihr nicht mehr erlaubt werden. Als sie am Morgen des 14. die Schule betritt, empfängt sie der Leiter, sie dürfe in keine Klasse mehr gehen. Er zeigt ihr einen Zeitungsartikel, in dem ihre Suspendierung steht... 

Gespräch mit Ulrich Hübler, Lokalchef der »Freien Presse« in Hohenstein-Ernstthal

Herr Hübler, Sie erinnern sich noch an den 13. September?
Gymnasium? Lehrerin? Alles klar.

Wer hat Sie damals informiert?
Also, wir sind informiert worden vom Kultusministerium und von Eltern.

Vom Kultusministerium?
Ja, die haben gesagt, dass es so einen Fall gibt und dass man da ein Verfahren einleitet, ein Prüfungsverfahren.

Noch einmal: Das Kultusministerium hat Sie informiert?
Ja. Und es gab eine Menge Anrufe von Eltern. Also, ne Menge ist relativ, es gab drei Anrufe von Eltern, die gesagt haben, Leute, das kann doch eigentlich in so ner sensiblen Situation nicht sein, dass eine Lehrerin das mehr oder weniger gutheißt. Ich muss aber sagen, die Petra S. hat sich dazu nie öffentlich geäußert, jedenfalls nicht uns gegenüber.

Wie kam es dann zu Ihrem Bericht?
Wir haben im Regionalschulamt nachgefragt, und von dort ist es uns bestätigt worden. Und relativ schnell, noch am gleichen Tage, ist die Lehrerin suspendiert worden.

Was Sie dann aus der Zeitung erfuhr?
Das ist gut möglich. Denn wir haben das ja an diesem 14. veröffentlicht. Am 13. nachmittags haben wir noch an der Geschichte gearbeitet...

Sie haben mit Schülern gesprochen?
Wir hatten Schüler am Telefon, um die Lehrerin einschätzen zu können - die Meinungen waren fifty, fifty. Ein anderes Bild ergab sich in der Lehrerschaft. Da ist man mit ihr ins Gericht gegangen, das Kollegium hat sich zusammengesetzt und sich von ihr distanziert. Ich fand das ein bisschen unfair. Naja, die Sache ist dumm gelaufen. Gerade im Osten, wo man das Ganze ja doch etwas anders sieht, hätte sich ein, zwei Wochen später keiner mehr an dem Satz gestört.
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Halten wir fest: Die Suspendierung erfolgte nicht wegen des Medienrummels, sondern bevor er einsetzte. Und halten wir weiterhin fest: Die Erstinformation an die Medien besorgte das Kultusministerium, und zwar eindeutig vor Beginn der dienstrechtlichen Untersuchungen. Ein ungeheuerlicher Vorgang: Maßgabe von höchster Stelle, Formierung öffentlicher Meinung, also Vorverurteilung.
Ein schwarzer Tag für Hohenstein-Ernstthal. Die kleine sächsische Stadt beweist Größe: Eilfertig distanzieren sich Gymnasiumsdirektor und Lehrerrat, Hoppe, der nie auch nur eine Stunde bei seiner Kollegin S. hospitierte, versichert der »Freien Presse«: »Über 60 Lehrer machen eine ordentliche Arbeit.« Schüler und Lehrer initiieren ganz spontan eine Kundgebung, auf der sie ihre Sympathie mit den USA ausdrücken, im Foyer wird ein Tisch aufgebaut, mit Kerzen und Kondolenzlisten, in die sich Schüler und Lehrerschaft »scharenweise« einschreiben. Ein Herzensbedürfnis, warum nicht. Weshalb nicht früher, weshalb erst jetzt? Ein schaler Geruch von Dienstbarkeit bleibt, von vorauseilendem Gehorsam, Feigheit und Eigene-Haut-Retten. Und doch mag man nicht selbstgerecht sein. Immerhin wurde signalisiert: Es geht um die Existenz.
Hätte Kollegialität wirklich die Existenz gekostet? Am meisten, so steht zu befürchten, kostete dieser Tag die Schüler. Die, die involviert waren, verloren möglicherweise die Unschuld; ihre Jugend ging zu Ende. Sie erfuhren, was Disziplinierung durch öffentlichen Druck bedeutet, wie groß die Verführung ist, eventuelle eigene Zweifel im wärmenden Mainstream zu ertränken. Der Eindruck, den die Gespräche vermitteln, die wir versuchten, mit Schülern zu führen: Unbehagen, vielleicht Scham, man würde »die Sache« am liebsten vergessen. Bleibt zu hoffen, dass dies nicht gelingt: Mit gebrochenem Rückgrat lebt es sich schlecht. 

Gespräch mit einem Schüler, dessen Name der Redaktion bekannt ist

Frau S. war bei Ihnen Geschichtslehrerin. Können Sie sie charakterisieren?
Ich glaube nicht, dass ich dazu jetzt was sagen muss.

Sie müssen nicht, aber Sie können - uns helfen, ein Bild von Frau S. zu gewinnen.
Wir sind von der Presse und vom Fernsehen schon genug befragt worden. Das wurde dann zum Teil verdreht, ich glaube nicht, dass ich mich noch mal äußern möchte.

Auch nicht, wenn Sie die Möglichkeit hätten, Ihre Antwort zu autorisieren?
Dann stimmt vielleicht das, was Sie abdrucken. Aber andere machen dann hinterher was anderes draus - nein, da hab ich Respekt vor der Presse.

Nur eins: Fiel jener Satz oder nicht?
Fragen Sie unseren Direktor.

Das Problem ist: Der sagt auch nichts.
Na sehen sie, er hat sicher Gründe.

Wenn alle Beteiligten schweigen, kann man die Wahrheit nicht rausfinden.
Ich möchte dazu nichts mehr sagen. Die Sache wurde unnötig aufgebauscht. Lassen Sie es damit bewenden.

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