Sparen an den Ärmsten

Paris kürzt Subventionen - Ärzte fürchten Zunahme der Tuberkulosefälle

  • Andrea Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.
In Frankreich haben immer mehr Menschen keinen Zugang zum Gesundheitssystem. Neue Mittelstreichungen verschärfen die Lage.

Eigentlich müsste man davon ausgehen können, dass gerade dort mehr Mittel investiert werden, wo der Bedarf am größten ist. Doch die Sozial- und Gesundheitspolitik der letzten Jahre geht auch in Frankreich in eine ganz andere Richtung. Ein Beispiel dafür ist Seine-Saint-Denis am nördlichen Stadtrand von Paris - eins der ärmsten Departements Frankreichs, mit einer deutlich geringeren Lebenserwartung als im Landesdurchschnitt. Hier gefährdet die Streichung einer Subvention von 1,4 Millionen Euro ab 2015 die kostenlose Untersuchung zur Erkennung von Tuberkulose und sexuell übertragbaren Krankheiten. Sie war für Patienten geschaffen worden, die vom Gesundheitssystem ausgeschlossen sind - weil sie nicht oder kaum französisch sprechen, keine Aufenthaltserlaubnis haben, obdachlos sind oder sich keine Krankenversicherung leisten können.

Ohne den Zuschuss müssen sieben Untersuchungszentren der ärztlichen Hilfsorganisation Médecins du Monde (MDM) schließen. Auch der Bus mit mobilem Untersuchungsraum, der in Armutssiedlungen oder zu Migrantenwohnheimen fährt, muss den Dienst einstellen. Dabei ist gerade diese Mobilität »absolut notwendig, da diese Menschen keine andere Möglichkeit haben, sich untersuchen zu lassen«, so Nathalie Godard, Koordinatorin von MDM. Dies werde »schwerwiegende Gesundheitsprobleme« zur Folge haben, vor allem die »Ausbreitung multiresistenter Formen von Tuberkulose«, warnt Jeanine Rocherfort, MDM-Chefdelegierte.

Seine-Saint-Denis, in dem ein Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt, hält den traurigen Rekord bei Tuberkulose. Es ist das einzige Departement, in dem die Anzahl der Fälle zwischen 2000 und 2010 nicht zurückgegangen ist. 31 Erkrankte gibt es pro 100 000 Einwohner - vier Mal so viele wie im Landesdurchschnitt, so das Institut für Gesundheitsüberwachung (InVS).

Grund ist die hohe Anzahl von Migranten aus von der Krankheit stark betroffenen Ländern. Zudem erhöhen die Lebensbedingungen in den Slums und Notunterkünften das Ansteckungsrisiko. Hinzu kommt ein »chronischer Ärztemangel«, sowie »die wiederholten Vertreibungen einer bereits stark geschwächten Bevölkerungsschicht«, warnen Abgeordnete der Linksfront aus Kommunistischer Partei (FKP) und Partei der Linken.

In Seine-Saint-Denis haben 300 000 Menschen keine Sozialversicherung und somit keinen Zugang zu Hausärzten. »An wen wenden sie sich, wenn unsere Zentren schließen? Wir werden sie erst in den Notaufnahmen wiedersehen, wenn die Krankheit bereits in fortgeschrittenem Stadium und nur noch schwer zu behandeln ist«, warnt Gilles Garnier von der FKP.

Die Budgetkürzung und ihre Folgen sind repräsentativ für eine voranschreitende Liberalisierung der Sozialpolitik, die immer mehr Menschen von der Gesundheitsversorgung ausschließt. Die staatliche Krankenkasse übernimmt derzeit nur noch 55 Prozent der Routinebehandlungen. Der Rest wird mehr oder weniger schlecht durch teure, private Zusatzkrankenkassen zurückerstattet. Für einen immer größeren Teil muss der Patient selbst aufkommen. Vier Millionen Franzosen können sich keine Zusatzversicherung leisten. Ein Viertel der Bevölkerung hat 2013 aus finanziellen Gründen auf Behandlungen etwa beim Zahnarzt oder auf eine neue Brille verzichtet.

Glaubt man dem dieser Tage erschienenen Enthüllungsbuch seiner Ex-Lebensgefährtin Valérie Trierweiler, so bezeichnet Präsident François Hollande im privaten Kreise die Armen Frankreichs herablassend als »die Zahnlosen«. Dazu hat seine Sozialpolitik entscheidend beigetragen.

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