Krisenkorporatismus hilft nicht weiter

»Spaltende Integration« - eine entlarvende Zustandsbeschreibung der Europäischen Union

  • Dieter Klein
  • Lesedauer: 7 Min.

Nach dem »Triumph gescheiterter Ideen« nun also »Spaltende Integration«. Rasch war der Vorgängerband vergriffen. Vielleicht auch bald das neue Buch von Steffen Lehndorff. Der Dozent von der Universität Duisburg/Essen gewann zehn Autoren aus zehn EU-Ländern. Der Analyse nationaler Wirtschaftspolitik folgt eine zusammenfassende kritische Darstellung des »neuen europäischen Interventionismus«, also jenes Mechanismus der Wirtschaftssteuerung in der EU, der sich in der Krise herausbildete und stark in die Volkswirtschaften hineinwirkt.

Für die Gewerkschaften ist damit eine neue Situation entstanden. Hans Jürgen Urban konstatiert indes eine »europapolitische Strategielücke« bei den Gewerkschaften, die im Grunde die gesamte europäische Linke betrifft. Die Gewerkschaften wirken überwiegend in nationalen Arenen. Doch die von der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds verfolgte Austeritätspolitik des Sparens an Sozialleistungen und des Drucks auf Lohn- und Beschäftigungsbedingungen hat fatale Folgen für alle Lohnabhängigen in Europa.

Die zentrale Botschaft des Buches ist daher paradox: Ein Kurswechsel in der EU muss auf nationaler Ebene erkämpft werden und bedarf dennoch zugleich einer europäischen Dimension. Denn die europäische Union ist eine »Konkurrenzunion«, in der sich eine »spaltende Integration« vollzieht. Die Gewerkschaften - wie andere linke Akteure auch - müssen zu einer »proeuropäischen Europakritik« finden. Europapolitik, so Urban, muss Teil der gewerkschaftlichen »Innenpolitik« werden. Es darf keinen Rückfall in allein nationale oder gar nationalistische Politik geben.

Die Länderstudien, illustriert durch vergleichende Tabellen, zeichnen das Bild eines »auseinanderdriftenden Kontinents«. Schon vor der Krise waren Wirtschaftswachstum, Wirtschaftspolitik, die Beziehungen zwischen Unternehmern und Lohnabhängigen, die Sozialstandards etc. sehr verschieden, jedes Land hatte seine »eigene Krankheit«. Schon daraus ergibt sich, dass die »Universalmedizin Austeritätspolitik« untauglich für die Gesundung der einzelnen Patienten und der EU als Ganzes ist.

Italien beispielsweise befand sich schon lange vor 2008 in einer schleichenden Krise. Es litt an sich wechselseitig in Machtkämpfen blockierenden Eliten, an Korruption, ineffizienter Verwaltung und fehlender Strukturpolitik. Spanien dagegen hat einen rasanten Modernisierungsprozess durchlaufen, der jedoch stark auf der Bauwirtschaft und Tourismusbranche beruhte, und weniger auf zukunftsfähiger Wirtschaft; die sozialstaatliche Entwicklung schwächelte. Durch Steuersenkungen wurde die staatliche Handlungsfähigkeit genau zu jenem Zeitpunkt geschwächt, als sie mit dem Platzen einer übergroßen Immobilienblase gefordert war.

Auch Irland hatte vor der Krise ein rasantes Wachstum erreicht. Aber es beruhte vorwiegend auf ausländischen Investitionen, angelockt durch niedrige Steuern, auf einem Bankenboom, getragen von globalen Finanzdienstleistungen und forcierter Vergabe von Hypothekenkrediten. Der dort erhaltene (Rumpf-)Wohlfahrtsstaat erwies sich als ein relativ stabiler Faktor in der Krise.

Deutschland hingegen verzeichnete vor der Krise über zehn Jahre ein niedriges Wachstum. Es ist das einzige EU-Land, in dem die Reallöhne zurückgingen. (Ab 2010 sanken dann unter dem Druck der Krise und der neoliberalen Politik in 18 von 27 EU-Staaten die Reallöhne.) Doch die Bundesrepublik ist nicht - wie oft suggeriert - dank der Agenda 2010 ein erfolgreiches Exportland und kam nicht dadurch verhältnismäßig gut durch die Krise. In erster Linie verdankte sich dies der hohen Produktqualität, entwickelter Spezialisierung, einem starken Mittelstand, guter Berufsausbildung und der Qualifikation und Flexibilität der Beschäftigten. Die EU-weit niedrigste Lohnstückkostenerhöhung war ein unterstützendes Moment. Die schnelle Überwindung der Krise in Deutschland beruhte, so Lehndorff, auf einem »Etikettenschwindel«. In Österreich und Frankreich wurden die Löhne mitten in der Krise erhöht. In Schweden wirkten erhebliche staatliche Infrastrukturinvestitionen und hohe Mittelzuweisungen an die Kommunen dämpfend; das Land verfügte trotz neoliberaler Gegentendenzen dank der weiter hohen sozialstaatlichen Standards über starke Stabilisatoren. Auch in Frankreich und Irland wirkten sozialstaatliche Leistungen stützend auf Nachfrage und Wachstum. Verallgemeinernd stellt Lehndorff fest, dass entgegen aller Beschwörung der Austeritätspolitik als Krisenheilmittel gerade diejenigen Länder, die in der Krise vorübergehend und partiell mit dem neoliberalen Wirtschaftsparadigma brachen, die Krise am besten verkraftet haben. Das ist eine für künftige Kämpfe ganz fundamentale, hier empirisch belegte Grunderfahrung.

Im überschuldeten Griechenland wird unter dem Kommando der Troika exemplarisch der Prototyp neoliberaler Politik exekutiert - mit verheerenden sozialen Folgen, wie hier faktenreich dargestellt wird. Großbritannien vollstreckte seinen Übergang von der New Labour-Politik, die zwischen neoliberalen Prinzipien und wohlfahrtsstaatlichen Mindestleistungen manövrierte, hin zu einem von den Konservativen vorangetriebenen puren neoliberalen Entwicklungspfad derart radikal, dass dieser Weg unumkehrbar werden soll. Die Besonderheit des ungarischen Weges ist ein rechtsorientiertes, national-chauvinistisches Politikmodell, ein autoritäres »charismatisches Durchregieren in demokratischer Hülle« bei Schwächung der Gewaltenteilung und parlamentarischen Kontrolle. Die Wirtschaft ist gespalten, das Land weitgehend abhängig von der Exportstärke der Unternehmen in ausländischer Hand, zu deren Gunsten der Arbeitsmarkt dereguliert und die Gewerkschaften stranguliert werden. Daneben existiert eine staatlich geförderte inländische Mittelstandswirtschaft. Orbáns Nationalismus ist wirtschaftspolitisch ein merkwürdig »selektiver Nationalismus«.

Der Band wendet sich ausführlich der Analyse des neuen europäischen Interventionismus im Rahmen der Strategie »Europa 2020« und dessen Wirkung auf Löhne und Tarifpolitik zu. Sie umfasst eine verwirrende Gemengelage europäischer Eingriffsmöglichkeiten in die Wirtschaft und in die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten. Der »Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM)« verleiht die Erträge aus seinen Anleihen zu verminderten Zinssätzen an Krisenländer, die sich im Gegenzug zu Haushalts- und Strukturreform mit antisozialen Sparwirkungen verpflichten müssen. Der »Fiskalpakt« legt für alle EU-Staaten mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs und der Tschechischen Republik fest, dass bei Strafe von Sanktionen das jährliche strukturelle Defizit 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten darf. Insgesamt zielt der Interventionsmechanismus auf die Durchsetzung einer strikten Austeritätspolitik und reicht bis zu sanktionsbewehrten Empfehlungen für die Lohn- und Tarifpolitik. Anschaulich wird in diesem Band herausgearbeitet, dass die Gesamtheit der institutionellen Veränderungen in der Tat zu einem neuen europäischen Interventionismus geführt hat. Die Machteliten haben gehandelt, aber ausgehend von neoliberalen Grundüberzeugungen ohne Vision. Sie untersetzen eben jene neoliberale Politik, die in die jüngste mehrdimensionale Krise hineingeführt hat.

Der Band schließt mit zwei Beiträgen zu gewerkschaftlichen Schlussfolgerungen. Die gewerkschaftliche Bereitschaft zur Kooperation mit Unternehmen und Staat hat in einigen EU-Ländern, etwa in Deutschland, Schweden, Österreich, Frankreich und Irland, durchaus »ansehnliche Defensiverfolge« für die Lohnabhängigen, besonders für die Stammbelegschaften, ermöglicht. Aber das Scheitern weiterreichender gewerkschaftlicher Forderungen in der Krise zeigt, dass der Krisenkorporatismus keinen ausreichenden Rahmen für bevorstehende Kämpfe bietet. Urban fordert eine »Strategie der autonomen Revitalisierung«, die eine Erneuerung der gewerkschaftlichen Machtressourcen voraussetzt.

Die Essentials künftiger gewerkschaftlicher Revitalisierung sind: Korrektur der asymmetrischen Verteilungs- und Machtstrukturen, Schließung der europapolitischen Strategielücke, Entwicklung politischer Mobilisierungskraft auf gesamtgesellschaftlichen Politikfeldern wie bereits in Griechenland und Spanien praktiziert, Überwindung der Kluft zwischen Stammbelegschaften und prekär Beschäftigten in der Gewerkschaftsarbeit, Bündnisse mit gewerkschaftsfernen Akteuren, Verbindung des politischen Mandats der Gewerkschaften mit ihren Kernaufgaben zur Verteidigung und Stärkung der Tarifautonomie, zur europäischen Koordinierung der Tarifpolitik und gegen fortschreitende Leistungsverdichtung.

Das empfehlenswerte, konzeptionell anspruchsvolle, empirisch reichhaltige und in vielen Passagen spannend geschriebene Buch spiegelt indes eine schwerwiegende Schwäche der Gewerkschaften ungebrochen wider: die Abstinenz in der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik. Dazu bietet dieser Band schlicht nichts. Eine linke Alternative darf eine konstruktive Antwort auch auf ökologische Fragen jedoch nicht schuldig bleiben. Zu den im Band im nicht explizit gestellten Fragen gehört, in welchen Gesamtzusammenhang linker Zukunftsvorstellungen die vielen wichtigen Einzelaussagen zu Alternativen in den Beiträgen eingeordnet werden sollten. Das Plädoyer für eine »autonome Revitalisierung der Gewerkschaftsmacht« deutet darauf hin, dass es um mehr als um Abfederung des neoliberalen Entwicklungsweges à la New Labour gehen soll. Also um eine systeminterne, im Rahmen des Kapitalismus verbleibende, aber progressive postneoliberale Transformation zu mehr Demokratie, mehr Gewicht des Öffentlichen, mehr Sozialstaat, zu sozial-ökologischem Umbau, einem größeren Gewicht der Care-Sphäre im Reproduktionsprozess sowie zu mehr Geschlechtergerechtigkeit.

Sollte die Gewerkschaftsdebatte nicht den Gedanken einer doppelten Transformation aufnehmen? Das heißt mitten im voraussichtlich lang andauernden Mühen um eine innersystemische Transformation des Kapitalismus bereits nach Einstiegsprojekten zur Überschreitung des Kapitalismus zu suchen, zu einer Großen Transformation hin zu einer solidarischen Friedensgesellschaft im Einklang mit der Natur - also zu einem demokratischen grünen Sozialismus. Vielleicht wäre das der Stoff für das nächste Buch des Forscherkollektivs um Steffen Lehndorff.

Steffen Lehndorff (Hg.) Spaltende Integration. Der Triumph gescheiterter Ideen in Europa - revisited. Zehn Länderstudien. VSA-Verlag, Hamburg 2014. 350 S., br., 24,80 €.

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