Eine Region im Ausnahmezustand

Impressionen von einer Reise in die harte kurdische Wirklichkeit an der die syrisch-türkischen Grenze

  • Yücel Özdemir, Diyarbakir
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Nachrichten aus dem syrisch-türkischen Kriegsgebiet sind häufig widersprüchlich; Grund genug, sich als Journalist nach Möglichkeit selbst über die Lage zu informieren.

Die Europäische Versammlung für Frieden und Demokratie hatte zu einer Delegationsreise an die syrisch-türkische Grenze eingeladen, an der ich als Vertreter der Föderation Demokratischer Arbeitervereine teilnahm. Die Reise, die von Köln über Diyarbakir im Südosten der Türkei in die Grenzstadt Suruç führte, war zugleich eine Reise ins Ungewisse. In Kobane (arabisch Ain al-Arab), wo die islamistische Terrororganisation Islamischer Staat (IS) Angst und Schrecken verbreitet, wollten wir uns über die Entwicklungen informieren und der Bevölkerung Grüße und die Solidarität aus Europa überbringen. Das Vorhaben sorgte bei uns für eine gemischte Stimmung aus Freude und Bedenken.

Denn in Suruç herrschte seit zwei Wochen der Ausnahmezustand. Die in der kurdischen Provinz Sanliurfa gelegene Stadt gilt als der Ort in der Region, der der syrischen Grenze am nächsten ist. Auf dem Schild am Ortseingang wird zwar die Zahl der Einwohner mit 101 000 angegeben. Tatsächlich leben derzeit weit mehr als 150 000 Menschen hier. Denn der Zustrom der Flüchtlinge aus Kobane in Syrien reißt nicht ab.

Kobane und Suruç sind quasi zwei Stadtteile ein und derselben Stadt. Die von den Deutschen gebaute Eisenbahnlinie nach Bagdad, die mitten durch beide Stadtteile führt, wurde von den Siegern des ersten Weltkriegs als Grenze bestimmt. Die Menschen dies- und jenseits sprechen dieselbe Sprache, sind in vielen Fällen miteinander verwandt oder ehemalige Nachbarn. Heute werden sie von der Eisenbahnlinie und verminten Feldern getrennt.

Der »Ausnahmezustand« ist nicht nur in Suruç zu bemerken. Schon in Diyarbakir und den zahlreichen Städten auf dem Weg nach Suruç konnten wir ihn spüren. Armee und Polizei haben viele Posten aufgestellt, an denen wir aufgehalten, kontrolliert und ausgefragt werden.

In Suruç halten sich viele Kurden aus Kobane auf. An jeder Ecke treffen wir Menschen, die auf ihre Rückkehr nach Kobane warten. In den Zeltstädten, in Parks, vor den Moscheen, in leeren Ladengeschäften und Kellerräumen haben sie sich einquartiert. Uns fällt auf, dass Frauen und Kinder in großer Mehrzahl sind. Die meisten Männer, die sie nach Suruç begleitet haben, sind wieder nach Kobane zurückgekehrt, um gegen den IS zu kämpfen.

Auch im Garten des städtischen Kulturzentrums harren viele Flüchtlinge aus Kobane unter der sengenden Sonne aus. Kinder, Frauen und alte Männer schlagen auf den in Baumschatten ausgebreiteten Teppichen die Zeit tot. Alle, die wir fragen, antworten uns: »Wir warten darauf, nach Kobane zurückgehen zu können.« Sie hoffen, dass die Volksbefreiungseinheiten (YPG), also der syrische Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans, die Terrormiliz IS zurückschlagen können.

Allerdings ist die Zahl derer, die vor dem Ende der Kämpfe nach Kobane zurückkehren wollen, auch sehr hoch. Sie folgen dem Aufruf von YPG, die Heimat nicht kampflos den IS-Mördern zu überlassen. Wir sehen, dass viele Frauen und Kinder den Grenzposten Mürsitpinar passieren und nach Kobane zurückkehren. Unter den Rückkehrern sehen wir einen Neugeborenen, der wahrscheinlich auf der türkischen Seite der Grenze auf die Welt kam. Kurdische Frauen, die ihre wenigen Habseligkeiten auf dem Rücken und ihre Kinder auf dem Arm tragen, möchten um jeden Preis in ihre Heimat zurückgehen. Sie machen sich keine Gedanken darüber, dass ihre von IS-Kräften belagerte Stadt Kobane oder ihre Dörfer jederzeit eingenommen werden könnten. Auch der Gedanke an die Gräueltaten von IS kann sie nicht aufhalten.

Eine alte Kurdin, die eine Decke auf dem Kopf balanciert, liefert sich ein Wortgefecht mit dem Soldaten am Grenzübergang, der sie nicht durchlassen möchte. Sie erzählt unter Tränen, wie vier kurdische Mädchen von IS-Angehörigen vor ihren Augen brutal ermordet wurden.

Der neue Nachbar der Türkei

Die Kämpfe zwischen IS und YPG kann man von den Dörfern um Suruç mit bloßem Auge verfolgen. Auch im Dorf Ali Zer (auf türkisch Cengelli Köy) hören und sehen wir die Kämpfe. Die Lehmhütten im Dorf bieten nicht nur den Bewohnern, sondern auch den Flüchtlingen sowie den Unterstützern aus türkischen Städten Unterkunft. Unter den letzteren treffen wir viele ältere Menschen aus Diyarbakir und Sanliurfa.

Sie erzählen uns, dass sie in der letzten Nacht die Kämpfe um das Dorf Cuma vor Kobane mitverfolgen konnten. Die YPG soll versucht haben, das von IS-Milizen eingenommene Dorf zurückzuerobern - allerdings ohne Erfolg. Als wir dort ankommen, sehen wir, wie IS-Fahrzeuge durch das Dorf patrouillieren. Ein gerade angekommener 40-jähriger Bewohner von Cuma berichtet uns, dass bei den Kämpfen sehr viele IS-Kämpfer getötet wurden. In Ali Zer sei er daran gehindert worden, in sein Dorf zurückzugehen. Er werde es an einer anderen Stelle weiter versuchen.

Die Dorfbewohner erzählen uns, dass der IS seine an der Grenze gehisste Fahne auf Bitten der türkischen Regierung wieder einholte. Am Kontrollposten in Ali Zer stehen sich türkische Soldaten und IS-Angehörige quasi gegenüber. Allerdings ist es bisher zu keinen Spannungen gekommen. Der Zorn der Dorfbewohner und Unterstützer gilt den türkischen Soldaten. Sie erzählen, die türkische Armee würde der IS-Miliz logistische Hilfe anbieten und ihre verletzten Kämpfer behandeln. Die Türkei ist hier zu einem Nachbarland von IS geworden. Und wir gewinnen den Eindruck, dass die Türkei mit ihrem neuen Nachbarn sehr harmonisch umgeht. Dies trifft zumindest auf die Grenzübergänge zu, die unter IS-Kontrolle stehen.

Am Kontrollposten vor Suruç werden wir wieder angehalten. Wir fragen die Polizisten, was sie zu diesen Vorwürfen sagen und erhalten die sarkastische Antwort: »Ganz im Gegenteil; wir behandeln die verletzten YPG-Kämpfer.« Er sei sogar einmal nach Kobane gefahren, um verletzte YPG-Leute zu holen. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass die Türkei versucht, die Proteste gegen ihre Unterstützung für IS zu entkräften. Weder die Flüchtlinge aus Kobane noch die Bewohner von Suruç konnten uns bestätigen, dass die Türkei verletzte YPG-Kämpfer in türkischen Krankenhäusern versorgt hätte. Auch die Ko-Bürgermeisterin von Suruç, Zuhal Ekmez, berichtet uns, dass die Türkei IS-Milizen medizinisch versorgt. Dass sie auch YPG-Kämpfer behandeln würde, könne sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Dafür gebe es keine Anhaltspunkte. Dagegen kann sie genaue Angaben darüber machen, wie viele IS-Kämpfer in den Krankenhäusern in Akçakale aufgenommen wurden. Auch wir haben gesehen, dass die meisten Krankenwagen in Richtung Akcakale fahren.

Unser nächster Halt ist die Stadt Qop. Unter einem Baum isst eine Gruppe von Dorfbewohnern und Unterstützern von gespendeten Lebensmitteln. Zu den Unterstützern gehören mehrere Frauen aus Mersin, die sich seit Tagen dort aufhalten. Eine andere Gruppe treffen wir in Dewsan.

Grenzübergang der Solidarität

Mürsitpinar ist der einzige Grenzübergang, an dem die Genehmigung für die Weiterfahrt nach Kobane erteilt wird. Die Stadt ist zu einem »Wallfahrtsort« für die Unterstützer geworden. Viele kommen hierher, um sich zu informieren und ihre Grußbotschaft nach Kobane zu übermitteln. Wir gewinnen den Eindruck, dass Tausende nach Kobane strömen würden, wenn die Soldaten die Grenze öffnen würden.

Die Armeeführung denkt aber nicht daran. Ganz im Gegenteil: Die Unterstützer, die sich dem Grenzübergang nähern, werden bedroht und unter Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken auseinandergetrieben.

In Mürsitpinar haben auch die Medien ihre Zentrale aufgebaut. An diesem letzten Übergang zu Syrien trifft man lächelnde Menschen, die nach Kobane übersetzen können, weil sie syrische Ausweispapiere vorlegen konnten. Alle anderen dürfen nicht ausreisen.

IS sucht sich neue Lebensräume

Wir sehen, dass die IS-Miliz ihre Offensive gegen kurdische selbstverwaltete Region Rojava und insbesondere Kobane verstärkt hat. Das hat sicherlich damit zu tun, dass ihre Stellungen in Irak und Osten Syriens zum Ziel von Luftangriffen wurden. Weil der Westen und seine Verbündeten in der Region versuchen, der selbst gezüchteten Bestie die Lebensadern zu durchtrennen, will diese sich neue Lebensräume schaffen und sich in den vermeintlich schutzlosen Gebieten wie Kobane niederlassen. Allerdings stößt sie dabei auf eine Gegenwehr, mit der sie bestimmt nicht gerechnet hat. Damit sie weiter zurückgedrängt werden kann, brauchen die tapferen Kurden die Solidarität der internationalen Öffentlichkeit. Die Botschaft, die uns die Flüchtlinge aus Kobane mit auf den Weg gegeben haben, ist schlicht: »Lasst uns nicht allein!«

Unser Autor ist Deutschland-Korrespondent der türkischen Tageszeitung »Evrensel«.

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