Wie eine Eisenstange

Daniel Kartmann wurde von einem Wasserwerfer am Auge schwer verletzt. Er möchte, dass die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft gezogen werden und hat deshalb gegen den Polizeieinsatz in Stuttgart geklagt

  • Marta Popowska, Stuttgart
  • Lesedauer: 7 Min.
Die brutale Räumung der Stuttgart-21-Gegner hat sein Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttert. Die Aufarbeitung vor Gericht zieht sich hin. Doch Daniel Kartmann hat Geduld. »Ruhe geben werde ich nicht.«

Daniel Kartmann steht noch nicht sehr lange zwischen den Demonstranten im Stuttgarter Schlossgarten, als ihn der Strahl eines Wasserwerfers mit voller Wucht mitten ins Gesicht und ins Auge trifft. Die Pupille reißt, die Blutungen im rechten Auge sind so stark, dass die Ärzte erst nach einer Woche erkennen, dass sich die Netzhaut ablöst. Auch nach der Operation ist nicht klar, ob er wieder richtig sehen wird. Klar dagegen ist der Vertrauensverlust in die Polizei, in den deutschen Rechtsstaat, der sich in Kartmann breit macht. Um das Vertrauen ein wenig wieder herzustellen, klagt er.

Der 30. September 2010 ist der Tag, den die Stuttgarter als »Schwarzen Donnerstag« abgespeichert haben. Mehrere Tausend Jugendliche, Männer und Frauen demonstrieren friedlich im Schlossgarten gegen die Rodung der Bäume in ihrem Park. Sie sollen der Baugrube für das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 Platz machen.

Vier Jahre später kann der Mann mit der markanten Hornbrille wieder sehen. Etwas lichtempfindlich sei sein rechtes Auge noch. Kartmann ist 37 Jahre alt, sitzt an seinem dunklen Küchentisch und erklärt, warum er seit Juni mit vier weiteren Menschen, die an jenem Tag, wie er betont, »von ihrem demokratischen Recht« Gebrauch gemacht haben und dabei schwer verletzt worden sind, als Nebenkläger auftritt. »Ich will, dass das aufgearbeitet wird - ich möchte, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden«, sagt er mit unaufgeregter Stimme.

Auf der Anklagebank im sogenannten Wasserwerferprozess sitzen die beiden Polizeiführer Andreas F. und Jürgen von M.-B. Sie koordinierten die Räumung des Parks. Der Vorwurf gegen sie: fahrlässige Körperverletzung im Amt. Sie seien nicht eingeschritten, als Wasserwerfer einen mit 16 bar zu starken Strahl auf die Menschen gerichtet hätten. Die Beamten wollen von Verletzten nichts bemerkt haben. Für solche Aussagen haben die Betroffenen nur ein müdes Lächeln übrig. Laut offiziellen Angaben gab es 130 verletzte Demonstranten. Projektgegner und Demosanitäter zählten fast 400.

Manche würden sagen: Es war der Tag, an dem Kartmann zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist. Daniel Kartmann sieht das anders. Trotz allem, was ihm passiert ist, bereut er nicht, hingegangen zu sein. »Ich bin erst nach dem Schwarzen Donnerstag richtig aktiv geworden«, sagt er. Seit dem Tag sei er aufmerksamer geworden, er hat gemerkt, wie leicht er manipulierbar ist beispielsweise durch die Medien. Heute nimmt er das, was ihm präsentiert wird, nicht mehr für bare Münze. Bei den Protestgruppen engagiert er sich nicht. Als selbstständiger Musiker und Vater von drei Kindern hat er dazu keine Zeit.

Hin und wieder nimmt er sie sich aber doch, die nötige Zeit. Wie am 29. September 2014. Fast 2000 Menschen haben sich zur 240. Montagsdemo vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof eingefunden. Die Straße um den Arnulf-Klett-Platz ist gesperrt, allmontägliches Verkehrschaos in Stuttgart. Montags erwarten die Leute schon lange keine pünktlichen Busse mehr. All das ist den Gegnern des Großprojekts Stuttgart 21 egal. Bevor die Redner die Bühne betreten, ist es Zeit für den Musiker Daniel Kartmann und seine Kollegin. Sie an der Geige, er, T-Shirt, blaue Turnschuhe, die Jeans sitzt locker, konzentriert sich auf sein Vibrafon. Das Duo improvisiert, sie spielen Bach. Fotografen und Fernsehkameras halten drauf. Kartmann weiß, dass er für die Zuschauer mehr Symbolfigur als Musiker ist. Doch er findet, er ist ihnen diese Auftritte hin und wieder schuldig.

Er macht sich Gedanken um den zunehmenden Verkehr und die Sicherheit seiner Kinder, die immer neuen Shopping-Tempel und den unnötigen Konsum. Auch in seiner Arbeit bei einer Stuttgarter Figurentheatergruppe spielt Politik eine Rolle. Das Ensemble thematisiert Dinge wie Protest und Rebellion, Armut und Verfolgung. Kartmann, der nicht nur die Musik macht, sondern mittlerweile auch in einzelnen Stücken spielt, sagt, er finde sich oft wieder. Wenn er über seine Arbeit spricht, klingt er fröhlich und glücklich.

Ernst wird er, wenn er über den »Schwarzen Donnerstag« erzählen soll. Doch Bitterkeit klingt nie durch. Freunde und Familie hätten ihn mit Fragen konfrontiert wie: »Warum bist du überhaupt als dreifacher Vater in den Park gegangen?« Er aber ist überzeugt, dass man Zivilcourage zeigen muss, auch wenn vom Arm des Staates Gewalt ausgeht, sagt er. »Ich lasse mich nicht einschüchtern.«

Tage bevor Kartmann am 22. Juli mit seiner Aussage vor Gericht dran ist, plagen ihn schlaflose Nächte. Für ihn sind es Erinnerungen, die er nicht gern aus der Schublade holt. »Ich hatte aber auch Angst vor der Aussage, weil es schon so lange her war und ich nichts auslassen wollte.«

Jener 30. September 2010 beginnt für den Familienvater wie die meisten. Er geht auf den Markt, weckt die Kinder, sie frühstücken. Anschließend bringt er sie in die Kita. Seinen Jüngsten, damals ein Jahr alt, behält er bei sich. Kartmann hat erst am Nachmittag eine Probe. Noch am Vormittag erreicht ihn die Nachricht, die bereits in der ganzen Stadt grassiert: Es heißt, Wasserwerfer rollten in Richtung Schlossgarten. »Ich habe das nicht ernst genommen, dachte, das sei Panikmache.« In Stuttgart hat es seit 40 Jahren keinen Wasserwerfereinsatz mehr gegeben. Kartmann weiß nicht, dass der Polizeipräsident, Siegried Stumpf, die Räumung des Schlossgartens am Abend zuvor von 15 Uhr auf 10 Uhr am Morgen vorverlegt hat. Ein Zeitpunkt, zu dem unter anderem eine Schülerdemo im Park stattfindet. Von seiner Neugier getrieben schnappt er sich gegen halb zwölf den Kinderwagen und fährt in den Park.

»Die Atmosphäre in der Straßenbahn war seltsam. Viele Leute sahen aus, als fuhren sie zur Arbeit. Aber viele hatten an ihren Anzügen Buttons.« In fast allen Ecken hört er die Menschen über die Demo sprechen. Sie hatten gegen das Abholzen der uralten Platanen, Eichen und Ulmen im Schlossgarten demonstrieren wollen. Vielen Bürgern erschien es grotesk, dass Bäume im beliebtesten Teil des Schlossgartens abgeholzt werden sollten. Bäume, für die es vier Personen braucht, um die bis zu fünf Meter umfangenden Stämme zu umgreifen. Bäume, die schon zwei Weltkriege überlebt haben, die keiner gewagt hatte als Brennholz zu verwenden, wie viele Stuttgarter gern und stolz erzählen. Heute sind sie Geschichte.

Nicht die Demonstranten, sondern die behelmten Hundertschaften erscheinen ihm als Schwarzer Block. »Die wirkten wie Roboter, sprachen gar nicht mit einem«, sagt Kartmann, der von anderen Demos durchaus freundliche Polizisten gewohnt war. Kartmann, der anfangs noch weiter weg steht, sieht plötzlich die ersten Verletzten aus der Menge kommen. Nicht vergessen kann er das Bild einer älteren Dame mit knallroten Augen, die von einem Helfer gestützt werden musste. »Die war voller Angst.« Er lässt den Sohn von seiner Lebensgefährtin abholen. »Ich konnte da nicht weg. Da passierte etwas, das nicht richtig war.«

Kartmann, der mittlerweile weiter vorn im Getümmel ist, erlebt eine kurze Demo. Plötzlich gehen die heftigen Wasserstöße auf die Demonstranten nieder. Wie die meisten anderen dreht er dem Strahl den Rücken zu, doch seine Brille wird getroffen. Er sieht sie wegschwimmen, will sie holen. »Als ich mich umdrehte, erwischte mich der Strahl am Auge. Es fühlte sich an, als träfe mich eine Eisenstange ins Gesicht.« Kartmann sieht nichts mehr, hangelt sich an der Kette aus Polizisten entlang hinaus aus der Menschenmasse. Keiner der Beamten habe auf ihn reagiert. Es ist Glück, dass eine Bekannte ihn zufällig sieht und sofort in die Augenklinik bringt. Eine Woche liegt er im Krankenhaus. Anschießend muss er operiert werden. Es vergehen Wochen, in denen er nicht arbeiten kann.

Auch wenn viele die zwei Polizisten auf der Anklagebank als Bauernopfer bezeichnen, tun sie ihm nicht leid. »Mir tut es leid um die Unumkehrbarkeit solcher Einsätze, um die vielen Verletzten, wie den erblindeten Rentner Dietrich Wagner. Und mir tut es leid, dass ich in der Zeit nicht für unsere Kinder da sein konnte.«

Noch befindet sich der Prozess in der Beweisaufnahme. Mit Spannung erwartet Kartmann die Aussage des Polizeipräsidenten Siegried Stumpf. Schon jetzt ist klar, dass der Prozess nicht wie geplant im Dezember, sondern eher im März kommenden Jahres ein Ende finden wird.

Doch Kartmann hat Geduld. »Ruhe geben werde ich nicht.« Er sagt, er schuldet das der Öffentlichkeit und vor allem den Stuttgartern. Er habe soviel Solidarität erfahren, Spenden und Briefe erhalten. »Das hat mich emotional am meisten umgehauen. Und der einzige Weg, wie ich das zurückzahlen kann, ist das hier durchzuziehen.«

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