Zauber einer Demo

Jirka Grahl über seinen 4. November 1989

  • Lesedauer: 3 Min.

Sollte ich da nun hin zu dieser Demo oder nicht? Das Leben ist kompliziert, wenn man grade 18 geworden ist, so wie ich im Herbst 1989. Die »Berliner Theaterschaffenden« hatten zur Demo aufgerufen und mir, einem Zwölftklässler aus Prenzlauer Berg, kam eine Teilnahme wie ein Verrat vor - nicht etwa an den hehren Zielen des Sozialismus, sondern an meinen Freunden: Ein paar von ihnen waren wenige Wochen zuvor vor der Gethsemanekirche verhaftet und geschlagen worden, bei ihren Protesten gegen die 40-Jahr-Jubeleien. Ich hatte mich gerade im Oktober unbewusst von ihnen fern gehalten, um nicht entscheiden zu müssen: Gehe ich mit protestieren oder nicht?

Mein schlechtes Gewissen plagte mich, sollte ich nun zu einer offiziell angemeldeten Demo gehen, bei der Günter Schabowski oder Markus Wolf redeten? Viele echte Oppositionelle um mich herum hatten darauf keinen Bock. Andererseits herrschte in diesen Tagen selbst an unserer Schule fiebrige Aufbruchstimmung und ich hätte gerne mal an etwas geglaubt: an einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« etwa, der die hohlen Phrasen aus den FDJ-Versammlungen vergessen lassen könnte. Ich litt längst wie meine Eltern an der Krankheit der Ostberliner Intellektuellen, der Schizophrenie: zuhause ARD gucken und nächtelang über Perestroika debattieren, doch im öffentlichen Leben: bestens funktionieren.

Schließlich ging ich mit ein paar Freunden hin und war verblüfft, welchen Zauber eine Demonstration ohne vorgegebene Einheitslosungen haben kann. So viele Menschen, alte und junge, so viele Transparente, kluge und dumme. Verrückt, was auch vermeintlich unscheinbare Leute so umtrieb! Was für eine Superkarikatur von Krenz! Den Alten mit dem »Deutschland einig Vaterland!«-Schild belachten wir. Armer Irrer.

Hinterm Palast der Republik bogen die 500 000 Demonstranten am Marx-Engels-Platz links ab, um zur Kundgebung am Alex zu gelangen. Wäre die Menge geradeaus weitermarschiert, hätte eine halbe Million Menschen in Minuten die Staatsgrenze erreicht. Doch an der Straße Unter den Linden herrschte Gelassenheit: Nur ein Polizeiauto parkte quer gen Brandenburger Tor, zwei Volkspolizisten standen davor.

Bis zur Kundgebung am Alex schafften wir es gar nicht, es hatten sich schon viel zu viele Leute auf den Platz gedrängt. Etwa von der S-Bahn-Brücke aus hörten wir schließlich den Rednern zu. Ich erinnere mich, dass der mir kaum bekannte Markus Wolf ausgepfiffen wurde und dass der von mir so verehrte Heiner Müller an diesem Tag seltsamerweise die Unzulänglichkeiten des FDGB beklagte. Gregor Gysi war für uns der mit Abstand beste Redner. Irgendwann aber wurde uns das Zuhören zu viel. Wir gingen essen im erstaunlich leeren Restaurant »Goldbroiler«. Bei Bier und Brathähnchen stellten wir staunend fest, wie spannend genehmigte Demonstrationen doch sein können.

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