Politik-Litik-Itik-Tik-Tik-Bumm!

Vom Aufenthalt in zwei anthrazitgrauen Ländern

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 6 Min.

1987

»So werdet ihr höchstwahrscheinlich nicht über die Grenze kommen.« Unser Englischlehrer, Herr Tichy, hatte uns beide am Abend vorher noch gewarnt. Freundlich, wie es seine Art war, hatte uns der alte Traditionssozialdemokrat seine Bedenken mitgeteilt. Wir sollten doch nach Möglichkeit unseren Kleidungsstil wenigstens für diesen einen Tag dergestalt variieren, dass uns die Einreise in die DDR gestattet bzw. uns ein Tagesvisum ausgestellt wird. Er wolle die unschöne Situation vermeiden, so Tichy, dass zwei seiner Schüler am Grenzübergang Friedrichstraße unnötiges Aufsehen erregen.

Das war im Mai 1987, zweieinhalb Jahre vor der Abtragung der Mauer bzw. der Zerstörung des antifaschistischen Schutzwalls. Eine Schulklasse eines baden-württembergischen Kleinstadtgymnasiums auf Klassenfahrt. Eine Woche Westberlin, mit eingeplant: am Reichstagsgebäude der obligatorische Blick über die bunt besprühte Mauer, an der ein kleines Treppchen für Touristen angebracht ist, ja, eine kleine Aussichtsplattform, von der aus man nicht viel sehen kann: Grenzanlagen, Wachttürme, eine nicht bunte, sondern erschreckend weiße Mauer, in der Ferne Grenzsoldaten. Und ein Tagesausflug nach Berlin-Ost, »Hauptstadt der DDR«. Tagesvisum, »Zwangsumtausch«: 25 D-Mark (West) gegen 25 Mark (Ost). Lehrerseits war die Empfehlung zu hören: »Kauft Bücher mit dem Ostgeld. Die sind billig. Viel anderes gibt’s dort eh nicht zu kaufen.«

Westberlin stellten wir uns vor wie in dem Text der Düsseldorfer Punkband Mittagspause: »Kebabträume in der Mauerstadt«. Als auf aufregende Weise kaputte Undergroundmetropole und Abenteuerspielplatz für Wehrdienstverweigerer, Hippies, Punks und Unbotmäßige jeder Couleur. Westberlin, der glamouröse Fremdkörper inmitten der Ostzone, die Stadt ohne Sperrstunde. David Bowie und Iggy Pop. »Oranienstraße, hier lebt der Koran / da hinten fängt die Mauer an. / Mariannenplatz, rot verschrien / ich fühl’ mich gut, ich steh’ auf Berlin.« (Ideal) Tatsächlich standen an diesen Tagen ausgebrannte Müllcontainer und verbogene Einkaufswagen auf der Kreuzberger Oranienstraße herum. Die legendären Kreuzberger Krawalle des 1. Mai 1987 hatten sich kurz zuvor ereignet.

Barbara und ich waren Punks bzw. das, was man im betulichen und beschaulichen Baden-Württemberg dafür hielt. Provinzpunks. Wir waren 19. Wir hatten zerrissene Jeans und bunt bemalte Armeestiefel an, in unsere Haare schmierten wir ein Zeug, das sie in alle Richtungen abstehen ließ. Und wir steckten in schwarzen Nietenlederjacken, auf denen wir Slogans zur Schau trugen, mittels welchen wir dem verhassten saturierten schwäbischen Bürgertum unseren Weltekel und unser fundamentales Nichteinverstandensein entgegenschleuderten. Kurz: Wir waren ziemlich putzig anzuschauen. Wir waren bis in die Haarspitzen verwöhnte Teenager von beängstigender Naivität.

Ich richtete mich nach dem Rat unseres Klassenlehrers. Am Tag unseres Ostberlinbesuchs ließ ich meine abgewetzte schwarze Lederjacke, auf der in Großbuchstaben der ebenso alberne wie womöglich als antisozialistische Provokation zu wertende Schriftzug »Stop Making Sense« prangte, zuhause und entschied mich stattdessen für ein grellbunt kariertes Sakko. In meiner Hosentasche führte ich einen Anstecker mit, der den Union Jack zeigte, die britische Nationalflagge, und den ich mir - um dem Warschauer Pakt mal so richtig die Meinung zu geigen - ans Revers heften wollte, sobald ich erfolgreich den Grenzübergang Friedrichstraße, den sogenannten »Tränenpalast«, passiert hatte. Von den grimmigen Uniformierten, die uns in den Glaskästen, in denen wir westdeutsche Kinder einzeln abgefertigt wurden, gegenübersaßen, wurde ich nach einigen skeptischen Blicken durchgewunken. Doch Barbara nicht. Sie musste zurückkehren in die Kreuzberger Jugendherberge. Ihr wurde »ohne Angabe von Gründen« ein Tagesvisum für die DDR verweigert. Vermutlich weil der sie begutachtende Uniformierte den Schriftzug auf ihrer schwarzen Lederjacke gelesen und unverzüglich als staatsfeindliche Hetze identifiziert hatte: »Politik-Olitik-Litik-Itik-Tik-Tik-Bumm!« Von da an war klar, dass die DDR vor allem eines war: ein humorloser Staat.

Menschen wie wir, so hatten wir gelernt, lebten drüben im Osten in einer Art überdimensioniertem Gefängnis in Staatsform. Sie litten, so hieß es, schreckliche Armut, lebten von kärglicher Kost und dürften ihr anthrazitgraues Land, die DDR, die von schlechtgelaunten, schlecht gekleideten, griesgrämigen Kommunisten regiert werde, nicht verlassen. Ganz falsch schien die von mir schnurstracks als solche durchschaute üble Kapitalistenpropaganda nicht zu sein. Tatsächlich hatte man es mit einem ganz erstaunlich öden Hausmeister- und »Cordhütchensozialismus« (Wiglaf Droste) zu tun. Er roch auch schlecht, nach einer Mischung aus Kunstfasertextilien und verbranntem Zweitaktergemisch. In einem Buchgeschäft erwarb ich an jenem Tag zwei blaue Bände für ein paar Mark Ost. Marx/Engels: Ausgewählte Schriften, Dietz-Verlag.

1992

1990 war ich nach Berlin gezogen, um dort zu studieren. Im September 1992 hatte ich mich dazu entschlossen, in den Osten zu ziehen, nach Prenzlauer Berg. In eine »Einraumwohnung« mit Außentoilette, 148 Mark Miete, zahlbar an die »KWV«, die Kommunale Wohnungsverwaltung der DDR, die es nicht mehr gab, die aber noch so hieß.

Der Staat DDR war zwar vor einigen Jahren über Nacht verschwunden, weil - so meine Erinnerung - fusselbärtige Pfarrer, schlechte Dichter und hysterisch in Fernsehkameras schreiende, würdelose Menschen in Stonewashed-Jeans ihn beseitigt hatten, um Begrüßungsgeld zu bekommen und dieses in Beate-Uhse-Geschäften wieder auszugeben. Aber seine malerisch verfallenden Altbauten waren noch da.

Auch das schönste jemals von der DDR geschaffene Kunstwerk stand damals noch an der ehemaligen Transitstrecke nach Berlin-West: die orangefarben leuchtende Pop-Art-Skulptur »Plaste und Elaste aus Schkopau« des »VEB Chemische Werke Buna«. Heute ist sie fort. Vermutlich steht an ihrer Stelle heute ein gewaltiger Möbel-Abholmarkt. Der Kapitalismus erkennt Kunst nicht, wenn sie nicht als solche gekennzeichnet ist.

Statt des Unrechtsstaats DDR gab es nun Freiheit und Menschenrechte. Das Haus, in das ich gezogen war, wurde von einem privaten Investor gekauft, der alles unternahm, um uns Mieter aus dem Haus zu ekeln, von der drastischen Mieterhöhung bis zum Abstellen von Strom und Wasser. Von da an war klar, dass die wiedervereinigte Bundesrepublik vor allem eines war: ein humorloser Staat. Die Menschen, die in ihr leben, essen teuren Analogkäse aus quietschbunten Hochglanzverpackungen, halten den Besitz eines Automobils für Reichtum, »Bild« für eine Zeitung und den im Fernsehen gezeigten Sondermüll für Unterhaltung.

Und ihr anthrazitgraues Land, eine Ansammlung von Parkhäusern, Reklamewänden, Fußgängerzonen und Einkaufszentren, das von schlecht gekleideten, grinsenden Kapitalisten regiert wird, nennen sie eine »Demokratie«. Im Internet werden meine beiden Marx/Engels-Bände heute für einen Preis zwischen 5 und 40 Euro angeboten. Lesen tut sie heute niemand, denn sie beinhalten mehr als 140 Zeichen. Und es sind auch keine Bilder drin.

Irgendwann zwischen dem Mai 1987 und dem September 1992 muss der November 1989 gewesen sein. Ich habe an ihn keine bewusste Erinnerung, aber vor mir sehe ich immer wieder die DDR-Flagge, aus der das Hammer-und-Zirkel-Symbol entfernt wurde.

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