Feigheit vor der Familie

Im Kino: »Höhere Gewalt« von Ruben Östlund

  • Von Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 4 Min.

Von Caroline M. Buck

Der Untergang der »Titanic« ist nur ein Beispiel von vielen. Männer, so belegen die Statistiken, überleben so ein Unglück grundsätzlich eher. Weil sie eben nicht (jedenfalls nicht immer) Frauen und Kindern den Vortritt lassen beim eiligen Sprung in die Rettungsboote. Vor allem dann nicht, wenn es derer absehbar zu wenige gibt. Stattdessen lassen sie ihren gesunden Überlebensinstinkt walten und für die eigene Sicherheit sorgen. Es sind Statistiken, die Ruben Östlund faszinierten, seit er sich auf die Suche machte nach weiteren Belegen einer Dynamik, die ein befreundetes Paar auf Urlaubsreise angesichts eines bewaffneten Überfalls erlebte: er brachte sich in Sicherheit, sie überlebte, von ihm alleingelassen, trotzdem - und konnte sich vom Schock des Alleingelassenwerdens lange nicht erholen. Die Scheidungsrate von Paaren, die gemeinsam eine Katastrophe überlebten, liegt weit über dem Durchschnitt - auch das fand der Filmemacher von der Statistik bestätigt.

»Höhere Gewalt« ist sein Versuch, eine Geschichte über den männlichen Drang - nein, eben nicht zum Beschützen, sondern zum eigensüchtigen Schutzsuchen in exemplarische Bilder zu fassen. Ort der Handlung: ein Skiort in den französischen Alpen. Zeit der Handlung: heutzutage. Handelnde Personen: ein Mann, Tomas (Johannes Bah Kuhnke). Eine Frau, Ebba (Lisa Loven Kongsli). Ihre beiden Kinder. Mats, einer seiner ältesten Freunde, auf der Durchreise mit Fanni, seiner (sehr) jungen Freundin. Eine weibliche Zufallsbekanntschaft aus der Hotellobby, die sich im Urlaub wechselnde Liebhaber gönnt, obwohl zu Hause in Schweden ein Ehemann wartet - eine Freiheit, die Ebba sich niemals nehmen würde. Jedenfalls bisher.

Denn es gibt ein Vorher und ein Nachher in diesem Film. Vorher, das ist das bereits etwas steife, aber noch erkennbar familiäre Miteinander beim Zähneputzen vor dem Badezimmerspiegel, bevor die Lawine alles ändert. Mutter, Vater, zwei Kinder, alle in saloppen Pyjamas, alle sehr auf Zahnhygiene bedacht. Ein Bild, das wiederkehren wird im Laufe des Films, nur sind dann immer weniger Personen vor dem Spiegel immer mehr mit sich selbst und immer weniger mit dem anderen beschäftigt.

Es ist ein Retorten-Ort aus den 1950er Jahren und ein gesichtsloses Mittelklasse-Apartmenthotel mit umlaufender Galerie auf jedem Flur, in dem Ebba, Tomas und die Kinder urlauben. Fünf Tage nur, aber immerhin. Die Erinnerungsfotos sind schon geschossen, eigentlich sollte jetzt nichts mehr schiefgehen in diesem uninspirierten, aber sozial gänzlich passenden Kurzurlaub. Dann kommt die Lawine.

Die ist, hier führt der deutsche Verleihtitel auf ganz falsche Fährten, keinesfalls ein unaufhaltbares Hereinbrechen höherer Gewalten, sondern durch und durch menschengemacht, vermeidbar, klein, blöd und sicher keine Zerstörung selbst einer so konventionellen Ehe wert wie der von Tomas und Ebba. Die Schneepflüge, die die Pisten glätten, haben die Lawine ausgelöst - zusammen mit den kontrollierten Explosionen, mit denen für Neuschnee auf den Loipen gesorgt wird. Eine allnächtliche Choreographie der Vortäuschung falscher Verhältnisse, ein absurdes menschliches Eingreifen in die Natur, die sich den Urlaubsgästen allmorgendlich in synthetischer Perfektion präsentiert - passen zu den chemisch bunten Skianzügen.

Instinktiv greift Thomas zu Handy und zu den Handschuhen seines Skianzuges, bevor er sich zur Flucht von der Restaurant-Terrasse wendet, auf der er eben noch mit seiner Familie saß und die anrollende Lawine filmte - bevor man allgemein begriff, dass die so kontrolliert ja gar nicht aussieht, sondern sich gefährlich nah der Terrasse nähert. Seine Frau und seine beiden Kinder, die ergreift Thomas nicht. Handy und Handschuhe sind ihm wichtiger. Dumm für ihn nur, dass das Handy seine Flucht filmt.

Danach wird in dieser Ehe nichts mehr so sein wie vorher. Die Ehefrau ist schockiert von seiner Feigheit, die Kinder sind zutiefst verunsichert. Der Ehemann dagegen ist zunächst noch voller Hoffnung, dass keiner was gemerkt hat, weil die Lawine doch noch rechtzeitig stoppte. Als die Geschichte beim Abendessen aus Ebba herausbricht, zeigen sich die Zufallsbekannten peinlich berührt. Der vollbärtige Freund mit seiner jungen Freundin bemüht sich verlegen um Rationalisierung des Vorgangs, lässt sich dann aber nächtens in lange Gespräche darüber verwickeln, ob denn wirklich alle Männer seiner Generation zwangsläufig solche Egoisten seien.

Das ist in digitalen Bildern kühl und reduziert erzählt, mit böse satirischem Humor und reichlich digitaler Nachbearbeitung. Tomas pendelt zwischen Selbstmitleid und Weinkrämpfen, Ebba trinkt zu viel Alkohol und konfrontiert ihren Mann geradezu zwanghaft immer wieder mit dem Moment der verantwortungslosen Flucht.

Die umlaufende Innengalerie, auf die das Apartment der Familie führt, wird sich wiederholt als denkbar schlechter Rückzugsort für gebeutelte Gefühle oder klärende Gespräche erweisen - schon weil ein neugieriger Zimmerjunge dort seine Rauchpausen verbringt. Und damit nebenbei beweist, dass zumindest die Sprinkler-Anlagen in diesem Hotel auch nicht funktionstüchtiger sind als Tomas’ und Ebbas Ehe.

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