Neopren gegen Magersucht

Wie Patienten mit Essstörungen lernen, ihren Körper realistischer wahrzunehmen

  • Angela Stoll
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein hautenger Neoprenanzug soll Menschen mit Magersucht helfen, ihre Körpergrenzen besser wahrzunehmen und zu begreifen, wie dünn sie eigentlich sind. Mehrere Kliniken bieten diese Therapie an.

Die Idee eines Taucheranzugs gegen Magersucht ist keineswegs so absurd, wie sie sich zunächst anhört. Hinter dem Ansatz stecken jahrzehntelange Forschungen des Leipziger Haptik-Forschers Martin Grunwald. Ein hautenger Neoprenanzug soll Menschen mit Magersucht helfen, ihre Körpergrenzen besser wahrzunehmen und dadurch zu begreifen, wie dünn sie eigentlich sind. Inzwischen bieten mehrere Kliniken solchen Patienten Neoprenanzüge an. »Ich halte das für einen wichtigen Beitrag zur Therapie«, sagt etwa Prof. Leonhard Thun-Hohenstein von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Salzburg.

Bei Anorexia nervosa (Magersucht), an der schätzungsweise 0,5 bis ein Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen leiden, spielen ganz verschiedene Faktoren eine Rolle. Typischerweise sind die Betroffenen fest davon überzeugt, dick und unförmig zu sein, obwohl sie extrem dünn sind - und das ist ein wesentlicher Grund für sie, weiter zu hungern »Gegen diese Körperschemastörung kommt man mit Psychotherapie nicht an«, betont Grunwald, Leiter des Haptik-Forschungslabors der Universität Leipzig. Den meisten Magersüchtigen hilft es auch nicht, sich im Spiegel zu betrachten - die Überzeugung, fett und aufgedunsen zu sein, sitzt tief im Gehirn. »Bei anderen Körperschemastörungen sind Leute davon überzeugt, drei Arme oder nur ein Bein zu haben. Gespräche helfen da nicht«, sagt der Psychologe. Er ist davon überzeugt, dass hinter solchen Phänomenen eine Störung des Tastsinnsystems steckt. Daher kam er auf die Idee, magersüchtige Patienten einen Neoprenanzug tragen zu lassen. Durch den Druck, den der Anzug auf den Körper ausübt, soll das Gehirn lernen, den Körper realer wahrzunehmen.

Auf das Thema Magersucht ist der Haptik-Forscher in den 1990er Jahren durch Zufall gestoßen. Alles begann mit einer kleinen Testreihe. Grunwald, der damals in Jena an seiner Dissertation arbeitete, ließ Versuchspersonen mit geschlossenen Augen Tiefenreliefs ertasten, die sie anschließend zeichnen sollten. Eine Studentin brachte so extrem verzerrte Bilder zu Papier, dass Grunwald sie um ein Gespräch bat - zu dem sie aber nie erschien. Da sie extrem dünn war, fahle Haut und eine flaumartige Körperbehaarung hatte, kam der Verdacht auf, dass sie magersüchtig war. Gab es also einen Zusammenhang zwischen gestörtem Tastsinn und Magersucht? Um das herauszufinden, untersuchte Grunwald eine Gruppe von Anorexie-Patienten. »Fast alle hatten bei haptischen Tests Probleme«, sagt er. Zudem erbrachte eine Untersuchung ihrer Hirnströme per EEG (Elektroenzephalografie) ein auffälliges Ergebnis: Bei den Testpersonen zeigte sich im rechten Parietallappen - dort, wo Tastreize verarbeitet werden - eine geringere Aktivität. Die Ursachen vermutet Grunwald in der frühesten Kindheit: Wenn die Körperinteraktion zwischen Eltern und Neugeborenem gestört ist, wirkt sich das negativ auf Hirnentwicklungsprozesse aus. Vereinfacht gesagt: Wer als Baby zu selten in den Arm genommen wird, hat manchmal lebenslang Probleme, sich in seinem Körper wohl zu fühlen.

Ein enger Anzug kann die vernachlässigte Erfahrung, gehalten zu werden, offenbar ein Stück weit ersetzen. Auf diese Idee war Grunwald unter anderem gekommen, weil die Schwestern der Kinder- und Jugendpsychiatrie ihm von ihren magersüchtigen Patienten erzählt hatten: »Sie kommen gerne zum Baden mit. Aber nicht, um zu schwimmen, sondern nur, weil sie offenbar gerne einen Badeanzug zu tragen.«

Einer magersüchtigen Studentin, die sich 2002 auf der Suche nach einer neuen Therapie an den Forscher wandte, verpasste er daher einen maßgeschneiderten Neoprenanzug. Sie musste ihn 15 Wochen lang drei mal täglich eine Stunde lang tragen. Das Ergebnis der Pilotstudie: Die Patientin schnitt laut Grunwald bei haptischen Tests immer besser ab. Gleichzeitig zeigten sich bei den EEGs Veränderungen in der rechten Hirnhemisphäre. Bemerkenswert war außerdem, dass sie tatsächlich zunahm.

Auch an der Berliner Charité hat man bei der Therapie von Magersucht gute Erfahrungen mit Neoprenanzügen gemacht, wie Körperpsychotherapeutin Gabriele Riess berichtet. »So ein maßgeschneiderter Anzug sitzt wie eine zweite Haut und liefert starke, intensive Reize. Er vermittelt den Patienten ein Gespür dafür, wo ihr Körper aufhört«, berichtet sie. Daher schätzt sie den Anzug als wichtiges Hilfsmittel bei Körperschemastörungen. Er sei aber nur ein Element innerhalb einer breit angelegten Therapie.

Ob sie das Kleidungsstück tragen wollen, können die Patienten selbst entscheiden. »Wir fangen mit einer Decke an, die straff um den Körper gewickelt wird«, berichtet Riess. »Das gibt Wärme und Halt.« Wer damit gute Erfahrungen gemacht hat, kann nach einer Woche beginnen, einen Neoprenanzug zu tragen.

Nicht bei allen Patienten löst der Anzug angenehme Gefühle aus. So berichtet die Mototherapeutin Gabriele Löschner vom Pfalzklinikum für Psychiatrie und Neurologie in Klingenmünster (Rheinland-Pfalz): »Von den 32 Patientinnen, die hier den Anzug getestet haben, empfand ihn etwa die Hälfte als positiv.« Ihnen wurde dadurch bewusst, dass ihre Körperwahrnehmung nicht stimmt. »Es gab aber auch Frauen, die sich im Anzug noch dicker fühlten«, sagt Löschner. Bei ihnen wurde der Versuch abgebrochen. Ähnlich zweischneidige Erfahrungen hat Thun-Hohenstein gemacht: »Es ist unterschiedlich, wie der Anzug empfunden wird. Die Beschreibungen reichen von angenehm bis schrecklich.« Insgesamt hält der Psychiater ihn, wie Löschner, für einen wichtigen Ansatz, da er die Auseinandersetzung mit dem gestörten Körperschema fördert. »Wir fragen uns aber auch, ob der Effekt langfristig ist«, sagt Thun-Hohenstein. Ende kommenden Jahres will er in Zusammenarbeit mit anderen Kliniken eine Pilotstudie zum Thema veröffentlichen.

Grunwald ist zwischenzeitlich noch weiter gegangen. Er fand heraus, dass der Tastsinn auch bei Menschen mit starkem Übergewicht gestört ist. »Bei haptischen Tests war die Abweichung von der Norm bei ihnen sogar noch gravierender als bei Magersüchtigen«, berichtet er. Auch sie nahmen ihren Körper nicht realistisch wahr: Sie hielten sich für viel dünner als sie waren. Innerhalb eines Pilotprojekts ließ Grunwald fünf adipöse Versuchspersonen Neoprengürtel tragen. Erste Ergebnisse waren positiv - doch wurde die Studie wegen mangelnder Finanzierung nicht weiter verfolgt, wie der Haptik-Forscher sagt. »In diesem Bereich wird leider viel zu wenig Forschung betrieben.«

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