Kein Beck’s, kein Latte, kein Bullshit

  • Andreas Gläser
  • Lesedauer: 3 Min.

Letzten Sonnabend feierten die Betreiber und Gäste der Kultur- und Schankwirtschaft Baiz sich selbst, anlässlich des elfjährigen Jubiläums. Da diese Wirtschaft vor einigen Monaten von der Torstraße in die Schönhauser Allee gezogen war, nämlich zu Fuß mit der Hilfe eines etwa 300 Köpfe zählenden Kollektivs, stand eine Motto-Fete an: »Das Leben ist eine Baustelle«. Und siehe da, viele Szenezombies gaben sich als Bauarbeiter, oft vorschriftsmäßig gekleidet, mit Schutzhelm und Warnweste. Ich glaube, wer nur zwei Meter Signalband um die Hüften trug, musste das Geschirr abwaschen.

Mir war dermaßen feierlich zumute, dass ich mich verkleidete und im Hochzeitsanzug meines Vaters als Bauherr ging. Ich fühle mich dieser Tage ohnehin einigermaßen wohlhabend, da ich mich in einem Kunstpatientenparadies aufhielt, wo die Erholung nichts kostete, wo man mich sogar auszahlte. Geben statt nehmen, jawoll. Deshalb sagte ich mir: Nehme ich doch einfach im Baiz als Bühnenhäschen am Kulturprogramm teil und lese aus dem »neuen deutschland« vor, als einer der Herren des literarischen Sechserpacks.

Aus dem »Spiegel« hat niemand von uns vorgelesen, wahrscheinlich, weil dort der Prenzlauer Berg als Inbegriff eines spießigen Stadtteils dargestellt wurde. Ja früher, da sei hier die Bohème schwer unterwegs gewesen, heutzutage gar nicht mehr. Dabei zeigen Kneipen wie die Baiz der Hauptstadt mit Losungen wie »Kein Beck’s, kein Latte, kein Bullshit« die Arschkarte. Im Prenzlauer Berg existieren noch die Kneipen, in denen sich mit großen Bieren für kleines Geld die Herzen und Lebern erobern lassen. Davon wissen die Ärzte und Psychologen einen ganzen Liederreigen zu singen.

Jedenfalls war die Baiz-Jubiläumsfete schnieke, sogar die schweigsamen Tresentrinker interessierten sich für die Kultur im Hinterstübchen. Nach der Lesung der sechs Herren wurde schon ab dem ersten Lied der beiden Schallplattenunterhalter getanzt, worüber ich anfangs stehend staunte, denn bis vor Jahren war ich oft der Erste auf der Tanzfläche, was einen berühmten Schriftsteller zu der Aussage veranlasste: »Nach der Lesung wird hier getanzt. Wenn ihr nicht wisst, wie das geht, orientiert euch an Herrn Gläser.« Tja, ziemlich bald bewegte ich den Hochzeitsanzug meines Vaters so heftig, wie er seit Jahrzehnten nicht mehr bewegt worden war - und am Sonntag stank er.

Ein kleiner Tipp noch, für Leute mit oder ohne Spiegel: Am Nikolausabend nehme ich an einer Künstlersause teil, in der Kreuzberger Skalitzer Straße 100; in einer Lokalität des Hinterhofs, dort agieren einige Musiker und Literaten. Theremin trifft auf Text trifft auf Tanzfreude. Kreuzberg ist ein schlimmer Bezirk, aber als Ureinwohner aus 1058 mache ich mit den dortigen Chaoten manchmal einen auf Völkerfreundschaft. Ihr erkennt mich an der Jeanshose.

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