In Dresden donnert keine Granate
Netrebkos Silvester
Es ist 15 Jahre her, dass der Granatenlärm des Uraufführungsjahres 1915 in Emmerich Kálmáns »Csárdásfürstin« immer wieder dazwischenkrachte und dann sogar kopflos im Schützengraben getanzt wurde - was zu lautstarken Buhs und einem nachträglichen Eingriff des damaligen Dresdner Intendanten in die Inszenierung von Peter Konwitschny führte. Der ließ dann juristisch klären, dass eine Inszenierung auch ein eigenständiges Kunstwerk ist, dass den Schutz der Kunstfreiheit im Lande genießt. Bei der aktuellen »Csárdásfürstin« bestand in dieser Hinsicht keine Gefahr. Schon weil es keine Inszenierung gab, und mittlerweile ein Buhkonzert der besonderen Art montags auf dem Platz vor der Semperoper zum Dauerbrenner zu werden droht.
Drinnen gab es jetzt den musikalischen Extrakt der »Csárdásfürstin« ohne die Dialoge als konzertantes Schmankerl zum Jahresende. In einer Luxusbesetzung, die den Namen auch tatsächlich verdient. So dick geschminkt Anna Netrebko bei der um zwei Stunden versetzten ZDF-Übertragung dieses Silvesterkonzertes der Sächsischen Staatskapelle auch wirkte, im Saal faszinierte neben ihrer reifer gewordenen Stimmgewalt vor allem ihr natürlicher Charme, mit dem sie auch schon mal augenzwinkernd die große Diva spielt - und als Sylva Varescu die Verführerin gibt.
Netrebko war natürlich der Star des Abends. Als Sängerin ist sie unumstritten - ihre Möglichkeiten sind erstaunlich. Mit Juan Diego Florez war ein zweiter echter Weltstar als Sylvas Verehrer Edwin an ihrer Seite. Verglichen mit seinem Dresdner Manrico in Verdis »Rigoletto« vor sechs Jahren ist er eine Überraschung nicht nur mit imponierend geschmetterter Höhe, sondern auch mit Kraft und Eloquenz vom Feinsten.
Dass Pavol Breslik sein »Ganz ohne Weiber geht die Chose« wie einen einzigen Flirt über die Rampe brachte, war für die Fans des Slowaken keine Überraschung. Und dass es für Christian Thielemann, sein Orchester und den Chor der Semperoper mehr als eine Lockerungsübung sein würde, sich nach der spätromantischen Strauss- und Humperdinck-Überdosis der letzten Wochen diesem Operettenklassiker mit lustvoller Hingabe zu widmen, versteht sich von selbst. Natürlich auch, dass mit Christina Landshamer als Komtesse Stasi, dem Nachwuchsbariton Sebastian Wartig als Feri und Bernd Zettisch als Edwins Vater das Ensemble sorgfältig komplettiert wurde.
Bei aller Freude am prachtvollen musikalischen Feuerwerk schleicht sich dann aber spätestens bei der Nr. 14, dem »Nimm, Zigeuner, deine Geige, Laß seh’n, was du kannst«, irgendwie die Wirklichkeit durch die Hintertür in die gerade so beschwingten Gedanken. Und hakt sich mit einem bohrenden Fragezeichen fest. Wenn man nämlich die Oper über den nachtleeren Platz verlässt, steigen plötzlich die Bilder jener Retter des Abendlandes aus den letzten Wochen in einem auf. Und die Frage, ob die da wohl auch klatschen würden …
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