Denken gegen die Bedrohung

Zum Tode des Soziologen Ulrich Beck

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Globalisierung. Wer sieht da noch durch? Es gibt eine Unzahl der Aspekte, wir spüren Benommenheit, verloren die Übersicht, die Bewusstseinskrise schnaubt uns an: Was weiß man wirklich? Es gibt daher ein sehr entscheidendes Wort für die kritischen Debatten um Welt und Wahn, um Sinn und Soll. Jean Ziegler, der Schweizer Antiimperialist, sprach es aus. Es ist ein sperriges, unpoetisches, ein grob nüchternes, aber äußerst hoch zielendes Wort. Es heißt: Wissensvermittlung. Der Soziologe Ulrich Beck, der in Bamberg und Paris, in München und London lehrte, hat Bücher solcher Vermittlung geschrieben (etwa »Die Erfindung des Politischen«, »Der eigene Gott«, »Was ist Globalisierung?«, »Das neue Europa: Neue Machtlandschaften im Zeichen der Krise«). Wenn man denn unter Wissen mehr versteht als nur Information, so, wie sich Bildung nie im Rüstzeug für Ausbildung erschöpft. Wissen, verstanden als Projekt einer Ertüchtigung, die sicherer macht im Spannungsfeld von Diagnose und Handlungsmöglichkeit, sicherer also in dem, was ertragen werden muss oder aber im Zusammenschluss der gemeinsam Wissenden gestaltet werden kann.

»Weltrisiko - Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit« führte 2007 gleichsam Becks 1986 erschienenes Buch »Risikogesellschaft«, einen Welt-Bestseller, weiter. Der Autor sucht darin nach dem »roten Erzählfaden«, der im 21. Jahrhundert die ökonomischen Anmaßungen, die politischen Depressionen, die naturkatastrophischen Schübe, die neuen kriegerischen Lüste und einen stark »antizipierten Terrorismus« miteinander verbindet. Ständige Bedrohung, so Becks Überzeugung, laste auf unseren Erwartungen, besetze unsere Köpfe und leite unser Handeln - Bedrohung wurde in nicht geahnter Weise »zu einer politischen Kraft, die die Welt verändert hat«. Es ist für Beck zum Beispiel nicht die terroristische Tat, welche die westlichen Institutionen der Freiheit und Demokratie zerstört, sondern es sind »die globale Inszenierung der Tat und die auf die Inszenierung folgenden politischen Aktionen und Reaktionen«. Die Formel »Krieg gegen den Terror« versinnbildlicht für ihn das Dilemma: Die terroristische Saat wurde »hinausgetragen auf tatsächliche, ausufernde Schlachtfelder, wo der Terrorismus dann seine größten Erfolge erzielen konnte - unzählige Tote, die moralische und politische Beschädigung der USA sowie Freiheitsbeschränkungen in den westlichen Demokratien«.

Die Welt ist entsichert, Öffnung ist gekoppelt mit rigiden Sicherheitsstrukturen nach innen - für das 21. Jahrhundert sah Beck, just infolge von Vorsicht, Misstrauen und Vorsorge, eine Verwandlung aller Entscheidungen ins Unabsehbare. »Die modern-demokratische Leitidee der Kontrollierbarkeit erledigt sich rasant.« Die tiefe Sorge um das Ganze ist »keine Option unter vielen Optionen mehr, sondern ist die grundsätzliche Kondition - das hat niemand vorhergesehen, gewollt oder gewählt«. Was ist unter diesem Aspekt territorialer Aufsprengung, die eine Dynamik jenseits von Stand und Klasse entfaltet, noch Politik, was Gesellschaft? Wie verbinden sich soziale Gegensätze mit der Notwendigkeit umfassender Bündnisse, also »Risikogemeinschaften« in Zeiten, da Zueinander und Wegdriften zugleich stattfinden? Wie wird mit dem Widerspruch umgegangen, dass, so Beck, die Krisen der Moderne aus den Siegen der Moderne hervorgehen?

Das Risiko, die Basisbedingung freien, schöpferischen Lebens, wurde zur Bürde. Die Massenarbeitslosigkeit (auch) als Folge immensen Produktivitätsgewinns. Der Zusammenbruch des Rentensystems (auch) als Wirkung von erfolgreicher Medizin und gestiegener Lebenserwartung. Das Ozonloch (auch) als Nebenprodukt wissenschaftlich-technischer Siege. Das ist der Problemraum der »Zweiten Moderne«. Aufschwung verschmilzt mit Verhängnis. Beck fragte angesichts dessen vehement nach europäisch gesinnter Verantwortungsethik, offenbar das Gegenteil deutscher Initiativen - Merkel bezeichnete er wegen ihrer Europa-Rettungspolitik »Merkiavelli«. Der Soziologe nannte das Individuum der Mitte einen »letzten Adressaten«. Und einen Gefährdeten. Denn alles, was die institutionelle Krise sowohl auf der Ebene der regierenden Politik als auch der Märkte hervorruft, »wälzt die ultimative Verantwortung des Entscheidens auf die Individuen ab, die alleingelassen werden mit den Unsicherheiten«. Für den Wissenschaftler eine Quelle für »Rechtsradikalismus und Fundamentalismus«.

Die Dynamik des Weltenlaufs fordert eine wichtige Konsequenz, die Beck in der »Umkehrung neoliberaler Politik« sah: »nicht Ökonomisierung der Politik, sondern Politisierung der Ökonomie« bis hin zur Einrichtung eines wirtschaftlichen UN-Sicherheitsrates, wie ihn schon Anthony Giddens vorschlug. Erst mit kräftigen internationalen Organisationen entstehe jenes »Positivsummenspiel zwischen Staaten, welches das Negativsummenspiel nationaler Autonomie überwindet«. Angestrebt werden müsse eine »gesellschaftliche Selbstkritik«, die das Denken für Alternativen öffne. Und alternativ ist für Beck eben auch ein »politischer Individualismus«, der aus überkommenen Gruppenzugehörigkeiten ausbricht und dagegen »selbstentworfene soziale Bindungen und Verpflichtungen europäischen Ausmaßes setzt«. Was landläufig als Politikmüdigkeit bezeichnet wird, war für Beck »erwachende Autonomie«. Es ist nicht Müdigkeit, wenn Menschen nicht mehr den Parteienstaat bedienen, der »längerfristig wahrscheinlich zu den Untergängern« der Weltrisikogesellschaft gehört. Als deren (utopischen) Kern er einen »pazifistischen Kapitalismus« nannte.

Der Widerspruch wächst - zwischen der Inständigkeit, mit der Menschenwürde und Menschenrecht in den internationalen Vergleich geworfen wird, und jener anderen Inständigkeit, mit der sozial Schwache ausgegrenzt werden. Während die »oben« sich vom Naturgesetz des scheuen Kapitals (das ihre selbstsüchtigen Frechheiten und Maßlosigkeiten scheinbar deckt), geschützt fühlen dürfen, bleibt denen »unten« nur die Sprach- und Erfahrungslosigkeit einer Kaste, die unter immer stärkeren »Anerkennungskonflikten« (Beck) verschlissen wird. Längst habe die Irrationalität der Unvereinbarkeitsgefühle eine Stufe erreicht, bei der jede Ungleichheit im Lebensstandard ganz unten eine Quelle von Kränkung und Demütigung und ganz oben ein Grund für verstärkte Überheblichkeit ist.

In den letzten Jahren verwies Beck inständig darauf, das Denken sei faul geworden, die Geisteswissenschaft habe sich von der Wirklichkeit verabschiedet. Wer eigentlich hat sich noch nicht von der (deutschen) Realität verabschiedet? Die Politiker sind ins Fernsehen gezogen, die Arbeitslosen ziehen sich sonst wohin zurück, der Sozialstaat wird abstrakter, und das Kapital verflüchtigt sich sowieso in die Welt, und soziale Erfahrungen sind rein virtuellen Wahrnehmungstechniken gewichen. Man hütet hier seine Klein-Welten, pflegt dort seine Abgeschiedenheiten und hält das für eine Form, der Globalisierung zu begegnen. Rechnet man Geisteswissenschaft zur Elitenfunktion, so wird die Elite ihrer Pflicht offenbar nicht mehr gerecht: Angst frisst auch jenes Denken auf, das doch Lust haben müsste, herausfordernden Klartext in die Gesellschaft hinein zu reden. Dem wachsenden Elend des Sozialen folgte so das Elend der Wissenschaft. Indem es mit ihr seltsam aufwärts geht: Die Armut steigt in die Köpfe.

Gegen diese Bestandsaufnahme hat Ulrich Beck, geboren 1944 in Stolp, Pommern, dem heutigen polnischen Slupsk, Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland, gedacht und gearbeitet. Am 1. Januar ist er, siebzigjährig, an den Folgen eines Herzinfarkts in München gestorben.

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