Wer bin ich?

Theatertherapie: Beim Schauspielen kann man neue Seiten an sich entdecken

  • Angela Stoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf einmal steht Karl da, ein kauziger Alter mit Panamahut. Er hat die halbe Welt bereist und genießt an seinem Lebensabend das Nichtstun, so abgeklärt und lebenssatt, wie er ist. Karl, der 75-Jährige, spricht wenig, trinkt und raucht dafür viel. Was für ein Gegensatz ist da der Auftritt der vornehmen Lady Fitzgerald-Scott mit ihrer extravaganten Filzmütze, die munter vor sich hin parliert. Gleich neben ihr auf dem Stuhl kauert Marie Antoinette, eine ältere Dame mit schwarzem Hut. Sie wirkt finster und verschlossen. Denn sie birgt ein grausiges Geheimnis, das sie endlich mit zitternder Stimme verrät: Vor Jahren hat sie ihren Mann umgebracht.

»Das ist ja ein buntes Treiben hier«, sagt Susanna Stich-Bender und lacht. Der Auftritt dieser teilweise recht schrägen Figuren ist kein Kabarett, sondern Teil eines theatertherapeutischen Gruppentreffens in der Ingolstädter Danuvius-Klinik für Psychiatrie. Die Teilnehmer wurden wegen einer Essstörung oder einer anderen psychischen Erkrankung behandelt und befinden sich derzeit in der Nachsorge. Gerade nach einem solchen Krankenhausaufenthalt sei Unterstützung wichtig, damit die Patienten sich im Alltag zurechtfinden, meint Stich-Bender. Die Schauspielerin und Theatertherapeutin leitet seit neun Jahren Gruppensitzungen dieser Art in der Danuvius-Klinik. Das Krankenhaus gehört zu der wachsenden Zahl psychiatrischer Einrichtungen in Deutschland, in denen Theatertherapie zum Behandlungskonzept gehört.

Die Therapietreffen sind immer gleich aufgebaut, erklärt Stich-Bender. Sie beginnen mit Aufwärmübungen und Bewegungsspielen, die das Bewusstsein für den eigenen Körper stärken sollen. Später steht die Arbeit mit verschiedenen Rollen im Mittelpunkt. Oft helfen Requisiten, sich in eine neue Figur hineinzudenken - heute sind es Hüte.

Aus einem Sammelsurium unterschiedlicher Kopfbedeckungen konnten die Teilnehmer eine wählen - sei es Baseballkäppi, Tirolerhut oder Dreispitz mit Feder. Dann sollten sie sich eine Figur ausdenken, die zum Hut passt, in ihre Haut schlüpfen und sie der Gruppe präsentieren. Erstaunlich, wie sich jeder innerhalb weniger Minuten verändert. Da ist zum Beispiel die junge Frau mit den rotblonden Haaren, die oft lacht. Was für eine Verwandlung ist es, als sie sich, den Strohhut auf dem Kopf, als sturer, wortkarger Rentner namens Karl vorstellt. Auch die anderen, die nach und nach auftreten, haben sich neu erfunden. Und sie haben offensichtlich Spaß dabei. Immer wieder wird gegrinst, gefeixt und gelacht.

In der nächsten Gesprächsrunde haben die Teilnehmer die Hüte abgesetzt, also auch ihre Rollen abgelegt und sind wieder in ihrem alten Leben angekommen. Nun sollen sie berichten: War die Figur, die sie dargestellt haben, ihnen ähnlich? Oder gerade nicht? Was haben sie dabei empfunden? »Lady Fitzgerald-Scott hat lauter Eigenschaften, die ich begehrenswert finde«, erzählt die große, schwarzhaarige Frau, die sich diese exzentrische Dame ausgedacht hat. Mit ihrer Persönlichkeit habe sie aber leider wenig gemein. »Sie ist nämlich sehr selbstbewusst«, fügt sie leise hinzu. Susanna Stich-Bender reagiert prompt: »Solche Eigenschaften sind in Ihnen bereits angelegt. Die Figur entsteht nicht einfach aus dem Nichts.« Eine ermutigende Botschaft.

Die Schöpferin der männermordenden Marie Antoinette gibt zu, dass sie große Schwierigkeiten hatte, sich die Figur auszudenken. »Wie haben Sie das erlebt?«, fragt Stich-Bender in die Runde. »Man hat nichts davon gemerkt«, geben die Teilnehmer zurück. Und die Therapeutin fügt hinzu: »Das floss nur so aus Ihnen heraus!« Auch das ist eine positive Rückmeldung. Und so macht die Leiterin rundum Anmerkungen. Das Spiel mit verschiedenen Rollen hat einen therapeutischen Effekt. »Es dürfen andere Seiten wahrgenommen und gezeigt werden. Die Rolle bietet den dafür nötigen Schutz«, erklärt Stich-Bender. »Ich sage den Teilnehmern oft: Es gibt nicht nur die verletzte Seite, wegen der Sie hier sind, sondern auch eine lebendige, kreative Seite. Wir versuchen, dieser Seite Ausdruck zu geben.« Es gehe bei Theatertherapie stets darum, die gesunden Anteile der Persönlichkeit zu stärken.

Theatertherapie, in Großbritannien und den USA eine fest etablierte Therapieform, ist in Deutschland noch relativ wenig bekannt. »Viele wissen gar nicht, dass es so etwas gibt«, sagt Ingrid Lutz, Leiterin des Instituts für Theatertherapie in Berlin. »Wir leisten da noch Pionierarbeit.« Dabei lässt sich die Therapie in vielen Bereichen einsetzen: etwa in Firmen, um das Betriebsklima zu verbessern, oder in Gefängnissen, um die Fähigkeit zur Empathie zu fördern. Oder auch in der Paartherapie, um aus festgefügten Rollen auszubrechen.

Rollenarbeit, wie sie Stich-Bender anbietet, sei grundsätzlich eine wichtige Methode in der Theatertherapie, sagt Lutz. »Sie ist aber längst nicht die einzige.« Gemein ist allen Ansätzen, dass neue Verhaltensweisen ausprobiert und eingeübt werden. Das ist Lutz zufolge auch der große Vorteil dieser Therapieform: Die neuen Verhaltensweisen lassen sich direkt auf den Alltag übertragen. Susanna Stich-Bender formuliert es so: »Wir kommen ins Handeln.«

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