Wer mit Moral rechnet, braucht mit Moral nicht zu rechnen
Nach einer Weile hatte ich es. Beide Seiten mathematisieren über die Existenz von Menschen mit fremden Wurzeln in diesem Lande. Die eine Seite betrieb es aktiv, die andere passiv. In beiden Fällen geht es jedoch um Kosten und um Nutzen. Um Kennzahlen, die man abwägt oder entkräftet, addiert oder subtrahiert. Beide stellen auf verschiedene Weise Rentabilitätsrechnungen an. Und spontan kam mir Kant in den Sinn. Ein heute so altmodisch anklingender Satz von ihm: »... der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche ...« Zweck an sich selbst? Das heißt: Letztlich taugt der Mensch nicht als Rechnung für Ökonomen..
Insofern ist der Einsatz von »Spiegel Online« eben keine Aufklärung, sondern Ausdruck einer philosophischen Anschauung, die der Aufklärer Kant intellektuell bekämpft hat: den Utilitarismus. Eine obskure philosophische Haltung, die im heutigen Neoliberalismus tiefe Spuren hinterlassen hat. Der Urvater dieser Lehre war Jeremy Bentham – eine besonders sympathische Type. Er erklärte, dass das oberste Moralprinzip die Maximierung von Glück sei. Die Lust sollte die Unlust überwiegen. Jedes Handeln, das den größeren Nutzen verspricht, ist demnach richtig. Nach Bentham handelte man zum Beispiel moralisch, wenn man 100.000 Moslems aus Deutschland ausweist, um 2,5 Millionen rechtschaffene Patrioten glücklicher zu machen. Die Quote 25:1 ist in Sachen utilitaristischer Berechnung der Moral einfach unschlagbar. Bentham selbst philosophierte damals nicht mit Moslems. Bei ihm waren es Bettler. Er wünschte sich eine Gesellschaft, in der jedermann Bettler aufgreifen und in Arbeitshäuser stecken konnte. Die Kosten dafür sollten die Internierten selbst durch ihre Arbeit abtragen. Der Eingriff würde zwar den Bettler sicher nicht glücklich machen, aber die Gesamtgesellschaft blickte auf die gesäuberten Straßen und wäre selig..
Nun haben weder Sinn noch »Spiegel Online« unmittelbar vom Glück gesprochen. Aber sie haben jeweils ganz nach utilitaristischer Tradition die Moral zu einer Angelegenheit gemacht, die man berechnen und durch Chiffren und Indizes definieren könnte. Kant hat diese philosophische Schule wie gesagt verteufelt. Weil sie »Rechte durch eine Kalkulation begründet«, wie der US-amerikanische Philosoph Michael J. Sandel das mal formulierte. Und der Mann aus Königsberg hielt es außerdem für unhaltbar, dass der Utilitarismus »moralische Prinzipien aus unseren zufälligen Begierden« ableitet. Die Moral, die Sinn nicht zu haben scheint und für die »Spiegel Online« eintritt, ist im Sinne Kants gar keine. Sie ist lediglich ein Rechenexempel, das sich aus der Fremdbestimmung ableitet. Richtig und falsch sind aber keine Entitäten, die man beispielsweise an Geldfragen festmachen könne..
Es ist schwer geworden heutzutage. Vieles was man uns als Moral präsentiert, ist im genaueren Sinne gar keine. Auch in der Argumentation sind wir völlig alternativlos geworden. Wir können zwar mit der Moral rechnen, aber ob wir mit ihr künftig rechnen dürfen, bleibt zweifelhaft.
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