Flammensetzende Revolte

Yannick Haenel taucht in »Die bleichen Füchse« tief in das Milieu der »Illegalen« in Paris ein

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Afrika ante portas? Nicht mehr nur vor den Toren steht Afrika. Zehntausende fliehen jährlich unter Lebensgefahr aus Ländern, in denen sie nicht leben können. Sie versuchen, oft von kriminellen Schleppern verleitet, die »Festung Europa« zu erreichen. Hier sind sie nicht willkommen, erhalten kein Asyl, werden - wie in Frankreich - ohne Papiere gelassen, um sie schneller abschieben zu können.

Von solchen Menschen »sans papier«, die in Paris unter skandalösen Bedingungen leben, handelt der von Claudia Steinitz in ein bemerkenswertes Deutsch übertragene neue Roman des bretonischen Autors Yannick Haenel: »Die bleichen Füchse«. Das Buch gliedert sich in zwei Teile, die eine - auf unterschiedliche Weise - anarchistische Aussage haben. Im ersten erleben wir den 43-jährigen Jean Deichel, der nach dem Verlust seines möblierten Zimmers in sein Auto zieht, einen Kombi R 18. Er verweigert sich der Fortsetzung seiner bislang bürgerlichen Existenz, trinkt gelegentlich über den Durst, kopuliert nachts auf dem nahe gelegenen Friedhof Père Lachaise, liest Beckett und Marx.

Im zweiten Teil wächst in diesem 20. Arrondissement ein afrikanischer Trauerzug zu einer flammensetzenden Revolte der »sans papier«. Die Polizei hatte zwei »Illegale« so lange gehetzt, dass die beiden in die Seine sprangen. Sie kamen aus der Wüste von Mali, konnten nicht schwimmen, ertranken. Yannick Haenel taucht tief in das afrikanische Milieu der »Illegalen« in Paris ein. Das passive, entfernt an Oblomow erinnernde Verweigern in der ex-bourgeoisen Haltung des Jean Deichel wandelt sich in eine lange schweigende, maskentragende, zuweilen aber virtuos aktiv werdende Variante eines afrikanischen Anarchismus. Darin gehen Revolte und Poesie eine verstörende Verbindung ein. Sie entfaltet mit Wucht eine globale Brüderlichkeit, versagt sich indes dem Versuch, eine politische Lösung zu formulieren.

Haenel erzählt von der skandalösen Wirklichkeit, führt die Verlogenheit der westlichen Werte vor. An der Friedhofsmauer des Père Lachaise, wo die fusilierten Kommunarden von 1871 begraben liegen, findet das Gastmahl für die beiden Toten statt. An Orten, die seit der Französischen Revolution »heilig« sind, droht der heilen Welt Frankreichs die angeschwollene Revolte.

Die beiden Toten gehören dem Volk der Dogon aus Mali an, einem der ärmsten und jüngsten Länder der Welt. Fast die Hälfte der Bevölkerung dort ist jünger als 15 Jahre, Frauen haben durchschnittlich sieben Kinder. Afrika wird trotz Aids, Hunger und mancherorts fehlendem Zugang zu Trinkwasser seine Bevölkerung bis zum Ende dieses Jahrhunderts vervierfachen. Wie soll die Welt dann aussehen, wenn 40 Prozent der Weltbevölkerung Afrikaner sind? Alle ohne Papiere, ohne Perspektive?

Diese Fragen wirft Yannick Haenel mit seinem temperamentvollen Roman auf. Die Lösung wird keine anarchistische sein können, sondern eine politisch gestaltete. Aber die Menschen werden ein Wörtchen mitzureden haben. »Die bleichen Füchse« fordert mit den Mitteln engagierter Literatur die Abkehr von der kolonialen Lüge und eine Besinnung auf die Werte ein, die in der amerikanischen und Französischen Revolution schon einmal formuliert worden sind. Nach seinem Erfolg mit »Das Schweigen des Jan Karski« rüttelt der Autor erneut kräftig an unserem selbstgerechten und selbstsüchtigen Verständnis.

Yannick Haenel: Die bleichen Füchse. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Rowohlt. 190 S., geb., 18,95 €.

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