»Wir wollten nicht in die Boote steigen«

Lampedusa wurde erneut zum Symbol einer Flüchtlingstragödie im Mittelmeer

  • Anna Maldini, Rom
  • Lesedauer: 3 Min.
Für das neue Flüchtlingsdrama im Mittelmeer mit vielen Todesopfern trägt auch die europäische Operation »Triton« Mitverantwortung.

Die Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini, ist konsterniert, traurig und wütend. Wieder einmal steht sie auf der Mole und sieht zu, wie dort reihenweise Leichen aufgebahrt werden. »Dieses Drama war vorhersehbar: Viele haben es auf dem Gewissen, aber offenbar schämt sich niemand dafür«, sagt die Frau, die mit ihrer Insel schon so viele Male das Symbol für die Flüchtlingsproblematik im Mittelmeer war. Diesmal sieht man allerdings nur relativ wenige Tote (29); die meisten Opfer liegen irgendwo auf dem Grund des Meeres.

Man kann die Zahl der Toten nur schätzen: Nach den Aussagen der 76 jungen Männer, die diese Tragödie überlebt haben, sind in den letzten Tagen drei oder vier Schlauchboote von der libyschen Küste aus gestartet und auf jedem waren etwa 100 Migranten zusammengepfercht. Drei Boote wurden mehr oder weniger leer gefunden, von einem weiteren fehlt jede Spur. Der Opfer sind also mindestens 200, vielleicht sogar 400. Das Flüchtlingswerk UNHCR geht von mindestens 232 Toten aus, aber die genaue Zahl wird man - wie so häufig in diesen Fällen - nie erfahren. »Wir wollten nicht in die Boote steigen«, erzählt einer der Überlebenden. »Aber die Menschenhändler haben uns mit vorgehaltenen Waffen gezwungen und wir hatten keine andere Wahl.« Die Flüchtlinge wurden am vergangenen Samstag in die kleinen Boote gestoßen: »Man hat uns ein paar Benzinkanister in die Hand gedrückt und versichert, dass die Wetterlage sich schnell bessern würde, aber tatsächlich wurde es immer schlimmer.« Als die Retter eintrafen, waren die Wellen bis neun Meter hoch. Ein anderer Überlebender berichtet, dass schon wenige Meilen vor der libyschen Küste ein Schlauchboot gesunken ist, »ein anderes hat Luft verloren und eines hatte ein Leck«.

Auf der virtuellen Anklagebank sitzt die europäische Operation »Triton«, die vor drei Monaten ins Leben gerufen wurde und die eigentlich »Mare Nostrum« ersetzen sollte, die groß angelegte Rettungs- und Bergungsaktion, die Italien nach der Tragödie vom 3. Oktober 2013 ins Leben gerufen hatte, als 366 Leichen vor Lampedusa geborgen wurde. Aber tatsächlich haben die beiden Operationen überhaupt nichts miteinander zu tun. Während Mare Nostrum Leben retten sollte, will man mit Triton die Grenzen schützen; während die Schiffe von Mare Nostrum vor der afrikanischen Küste kreuzten, um die Flüchtlingsboote möglichst früh abzufangen und sicher nach Europa zu bringen, halten sich die Schiffe von Triton irgendwo vor den nationalen Gewässern auf. Im vergangenen Jahr waren die Rettungsboote mit all den Mitteln ausgestattet, die notwendig sind, um Menschen aufzunehmen; heute haben sie nur das an Bord, was die Soldaten für sich brauchen …

»In diesem Fall hat Triton noch nicht einmal Alarm geschlagen«, sagt Giusi Nicolini. »Das SOS ging von den Migranten aus …«. Sie erzählt, dass Stunden vergingen, bis ein Schiff von Lampedusa aus die Brüchigen erreichte, und weint fast, als sie sagt, dass die 29, deren Leichen jetzt geborgen wurden, nicht ertrunken, sondern erfroren sind. »Aber auch das scheint ja niemanden zu interessieren, genauso wenig wie Gefahren, denen die Retter ausgesetzt sind«, so die Bürgermeisterin resigniert.

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