Verlust der Unschuld
Jugenddramen
Es ist der Herdentrieb, der eine ganze Kleinstadt gegen ein junges Mädchen aufbringt, im nordschwedischen Spielfilm »Flocken« (Der Schwarm). Eine Wagenburg-Mentalität, die nicht zulassen will, was nicht sein darf, nicht sehen mag, was Risse in die Gemeinschaft treiben könnte, sich verschließt vor Anschuldigungen, die einen Jungen treffen, dessen Familie zu den wohlangesehenen gehört: die Mutter im Kirchenchor, der Vater ein braver Arbeiter und Jäger wie die anderen. Anschuldigungen, die noch dazu von einer kommen, deren Mutter mit ihrem schrill platinierten Blondhaar, ihrer Oberweite und ihren losen Gewohnheiten ohnehin nicht recht vertrauenswürdig scheint.
Darum bekommt Jennifer (Fatime Azemi), ihre stille, fünfzehnjährige Tochter, die ganze Verachtung von Nachbarn, Schulleitung und Pfarrer zu spüren, als sie den blonden Alexander (John Risto) einer Vergewaltigung bezichtigt - wo die beiden doch bisher so dicke Freunde waren. Bald ist es nur noch ihre engste Familie und David, der Freund der Mutter, die zu Jennifer halten. Als auch dieser engste Kreis wegbricht, sitzt sie am Ende mit der Schrotflinte im Wald und denkt an Selbstmord. Der Fall, den Filmemacherin Beate Gårdeler in »Flocken« aufarbeitet, ist ein realer. Und auch wenn man die Tat selbst nicht sieht und zuerst vielleicht mit Alexanders Mutter (Eva Melander) an ihres Sohnes Unschuld glauben möchte - die Körpersprache der Jugendlichen erzählt etwas anderes.
Die Heldin eines zweiten Films für Jugendliche über 14 ist selbst gerade mal zwölf Jahre alt - und doch die Ernährerin der ganzen Familie. Mina (Farzana Nawabi) ist eine jener helläugigen Afghaninnen, wie sie durch »National Geographic«-Fotos in der ganzen Welt berühmt wurden. Zur Schule geht sie heimlich, die andere Hälfte des Tages ist sie Verkäuferin schwarzgehandelter Ramschwaren auf einem Straßenmarkt in Kabul. Ihre Ware bezieht sie ausgerechnet bei dem Dealer, der ihrem arbeitslosen Junkie-Vater den Stoff verkauft, und der nicht nur einen Schnitt von Minas Verdienst einsteckt, sondern am Ende praktisch alles. Minas Großvater ist senil, der kleine Bruder keine große Hilfe und Minas Mutter wurde von den Taliban getötet.
Als Mina von einem weißbärtigen Gast des Vaters goldene Ohrringe im samtenen Schmuckkästchen überreicht bekommt, weiß sie, dass ihr nun nicht mehr viel Zeit bleibt. Mit der handbetriebenen Nähmaschine noch aus Russenzeiten unterm Arm macht sie sich auf, außerhalb der Lehmmauern ihres Heims nach einer Zukunft ohne Zwangsheirat zu suchen. Aber wer wird eine ungelernte Schneiderin einstellen?
»Mina Walking« von Yosef Baraki zeigt einen Alltag jenseits hohl-optimistischer westlicher Abzugsparolen. Und die raue Wirklichkeit unter einem Familienrecht, das Minas Vater die Herrschaft über sie zuspricht.
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