Ökonomischer Riese, politischer Zwerg

Hegemony in the Making. Über Deutschlands Rolle in der Welt und die drei Spielkarten der herrschenden Klasse

  • Rainer Rilling
  • Lesedauer: 8 Min.
Die ökonomische Neuordnung der geopolitischen Position Deutschlands ist das hegemoniepolitische Hauptresultat der Krise in Europa. Wird Deutschland mehr sein als »hegemonialer Stabilisator«?

Deutschland ist wirtschaftlich ein Riese, politisch aber ein Zwerg. Diese These ist seit einem Jahrhundert das Grundproblem konservativer Außen- und Sicherheitspolitik. Sie kennt letztlich nur ein Frage: Wie bekommt in der aktuellen Staatenwelt mein Staat mehr Sicherheit und Macht? Wie kann er sich in der internationalen politischen Ordnung und der kapitalistischen Konkurrenz behaupten, also ein Primat erreichen und ausbauen? Wie wird also aus dem politischen Zwerg ein politischer Riese, der in der »Liga der globalen Player« spielt, wie es das Papier »Neue Macht - neue Verantwortung« formuliert, das von der Stiftung Wissenschaft & Politik sowie dem German Marshall Fund Ende 2013 veröffentlicht wurde? Und was ist heutzutage eigentlich ein Riese?

Über eine neue Machtpolitik Deutschlands wird heftig diskutiert. Neue Wörter verbreiten sich: Gestaltungsmächte, Verantwortung, Führung. Besonders der »Hegemon« hat es der neuen Sprachpolitik angetan: im Falle Deutschlands ist das ein wohlwollender, gütiger, zurückhaltender, eingebetteter, zögerlicher, widerstrebender oder gar widerwilliger Hegemon.

Die Wirklichkeit ist anders. Da die »neue Macht« Deutschlands vorwiegend auf der globalen Expansion der deutschen Wirtschaft beruht, treten seine Vertreter als Fürsprecher einer neoliberalen Weltordnung auf. Gekämpft wird um die Freihandelsmacht in der globalen Großmarkthalle. Die EU ist der größte Handelsraum der Welt, China der größte Handelsstaat. 2013 verließen 60 Prozent der Exporte der Länder der Eurozone den gemeinsamen Währungsraum - darunter waren zwei Drittel der deutschen Exporte.

Deutschland gehört mit den USA und Japan zu den stärksten Exportökonomien. Es war schon vor 1914 Exportweltmeister und entwickelte eine Wirtschaftsstrategie, die bis heute jede Alternative niederkonkurriert. Die Exportquote der BRD hat sich von 1991 (22,2 Prozent) bis 2013 (40,0 Prozent) fast verdoppelt und der Bestand deutscher Direktinvestitionen im Ausland stieg von 134 Milliarden Euro (1991) auf 1200 Milliarden Euro (2012).

Die Internationalisierung des deutschen Kapitals hat zu einem Positions- und Machtgewinn in und von Europa geführt. In den ost- und südeuropäischen Staaten, in Österreich, Italien oder den Beneluxstaaten dominiert das deutsche Industriekapital in einer ganzen Reihe von Branchen. Die deutsche Ökonomie ist die dominante Wirtschaft der EU.

Neben den exportorientierten Industriekonzernen spielen dabei die deutschen Finanzmarktakteure eine führende Rolle. Ihre bedeutende Macht beruht auf einer starken Gläubigerposition und der Fähigkeit, in der Finanz- und Geldpolitik europaweit »deutsche« Positionen durchzusetzen und gemeinsam mit dem deutschen Industriekapital die Austerität zu verankern. Von einem europäischen Sozialmodell ist kaum noch die Rede. Beide zusammen sind die Zentralakteure des deutschen Kapitalismusmodells.

Sie nutzten die andauernde Krise zu ihren Gunsten, veränderten die ökonomische Machtkonstellation in Europa und schufen mit der neuen Spaltung Europas zwischen dem Norden auf der einen Seite und dem Süden und Osten auf der anderen die Grundlage für einen Machtgewinn Deutschlands.

Diese geoökonomische Neuordnung der geopolitischen Position Deutschlands ist das hegemoniepolitische Hauptresultat der großen Krise in Europa. Mittlerweile schreibt sich Deutschland die Rolle des »hegemonialen Stabilisators« nicht nur in Europa zu. Ein neuer samtweicher, handlungsfreudig-fleißiger Begriff betritt die Bühne: die »Gestaltungsmacht«. Real geht es um eine umkämpfte und umstrittene »German Hegemony in the Making«.

Ein Hegemon muss drei Karten ausspielen, will er gewinnen. Erstens setzt die Positionierung und Akzeptanz Deutschlands als »Global Player« voraus, dass es eine eigene Führungsposition in der EU aufbaut und die Position politischer und wirtschaftlicher Konkurrenten schwächt, insofern also Ungleichheit in Europa stärkt. Kräftepolitisch ist dabei die neue Ungleichheit zwischen Frankreich und Deutschland von historischer Bedeutung. Die »kooperative Hegemonie« ist vorbei. Das ist das »eigene« und unmittelbare Einzelinteresse des Hegemonen, das gegen die konkurrierenden Ansprüche anderer Akteure auf Machtmaximierung und Führung gerichtet ist.

Zweitens erfordert dies eine Politik, die zugleich Interessen der anderen europäischen Staaten aufgreift, also ein Zerfall der EU verhindert und zur Stärkung Europas in der Weltpolitik beiträgt. Das ist das zweite, indirekte, besondere Interesse des Hegemonen. »Deutschland«, so das oben genannte Papier der Stiftung Wissenschaft & Politik sowie des German Marshall Fund, »wird künftig öfter und entschiedener führen müssen … mit anderen und mit Rücksicht auf andere.« Nicht etwa: »gegen andere«! Eine offiziöse Bilanz der Debatte »Review 2014« des Außenministeriums formulierte flott die Zielstellung: »Mehr deutsche Führung in und durch Europa«.

Die Politik des Hegemonen der europäischen Marktmacht praktiziert partnerschaftliche Führung und Troika-Autoritarismus, Disziplinierung und Zustimmung. Akzeptanz hängt am Ende aber davon ab, ob Deutschland vermag, das Projekt der Ausweitung und Stärkung des europäischen Kapitalismus (»The Making of European Capitalism«) voranzutreiben und zu vertreten.

Die erste Karte des Eigeninteresses an Machtmaximierung wurde hierzulande zwar erfolgreich ausgespielt, doch der Preis war eine tiefe Destabilisierung des europäischen Umfelds. Die zweite Karte der Stärkung des europäischen Kapitalismus im Hegemoniespiel sticht also nicht wirklich. Mehr noch: auch die erste Trumpfkarte könnte wertlos werden, denn die innere Instabilität in vielen Ländern bedroht den Zusammenhalt der EU und die führende Rolle Deutschlands. Der Kontinent driftet auseinander. Das Making of European Capitalism stagniert.

Und wie steht es um die dritte Karte? Gerade Export- und Finanzkapital sind auf globale Produktionsketten, Handelsströme und Verwertungsnetze orientiert. Zur »Globalisierung« formuliert das Papier »Neue Macht - neue Verantwortung«, ihre »Bewahrung und Fortentwicklung« sei »Deutschlands überragendes strategisches Ziel - schon im eigenen Interesse«. Die dritte, übergreifende, globale Aufgabe eines Hegemonen besteht darin, den globalen Expansionsprozess des Kapitalismus »zu machen«, denn er ist keine gesetzmäßig-blinde Entwicklung der Ökonomie. Er war und ist »ein Projekt«. Eine hegemoniale Führungsrolle der Bundesrepublik in Europa verlangt, erfolgreich die global-imperialen Qualitäten und Fähigkeiten Europas zu entwickeln - nicht zuletzt gegen die zunehmende Dynamik zu einer »Welt mit weniger Westen«. Wie steht es um den deutschen Beitrag zu dieser Kür der Hegemonialkonkurrenz?

Damit kommen wir zur Champions League. Es geht um die Rolle Europas als weltweitem Akteur. Und hier treffen wir ihn auch wieder, den politischen Riesen. Hat dieser Riese eigentlich einen Namen? Als es nach den 9/11-Anschlägen um die veränderte Rolle der USA ging, erinnerte der »Guardian« im August 2002 an den »Gorilla unter den geopolitischen Bezeichnungen«: das American Empire. Imperien haben im Unterschied zu anderen Akteuren immer einen Bezug zu dem, was »Welt« ist. Es geht um Weltordnung: »Empires are in the business of producing world order« (Charles Maier).

Zur Imperialität gehören die Absicht und Fähigkeit zur Transformation der Geografie des Globalen. Bei der neuen Weltordnung, von der so viel gesprochen wird, geht es um die Neuordnung der imperialen Welt des globalen Kapitalismus - The Making of Global Capitalism. Die Akteure der Konkurrenz um den Umbau des Weltsystems und die Aneignung wie Beherrschung seiner zentralen Orte der Kapitalakkumulation und politischen Machtkonzentration sind Imperien. Die Rede von der »interimperialen Konkurrenz« (Laura Doyle) und die Ausbreitung der Geo-Rhetorik zeigt an, wie sehr in diese Konkurrenz Bewegung gekommen ist.

Imperien sind Allianzen aus Staats-, Unternehmens- und Zivilmachtorganisationen. Ihre Geopolitik, also Raumaneignung und -hoheit zur ökonomischen Inwertsetzung und Akkumulation politischer Macht, ist ein Mittel, um aparte Ressourcen in neuen räumlichen Anordnungen des transnationalen Kapitalismus aufzuhäufen. Gegenwärtig können nur die USA, Europa und China solche imperialen Projekte verfolgen. Die Geschichte der 1990er und 2000er Jahre war die Zeit der Positionierungen und Vorspiele für die langen Konflikte um die neue Hegemonie im Globalkapitalismus. Das Ende dieser Zwischenzeit hat begonnen.

Und Deutschland? Deutschland ist kein Imperium und wird auch keines werden. Aber am Aufbau eines imperialen Europa mitzuarbeiten, um die erreichte Führungsposition zu halten und auszuweiten - das scheint der aktuell mach- und absehbare Königsweg einer Politik der Hegemony in the Making zu sein.

Wer in und durch Europa eine Hegemonialrolle beansprucht, muss die Absicht und Fähigkeit zeigen, in die Ordnung des globalen Kapitalismus nachhaltig und mit globalem Gestaltungsanspruch zu intervenieren. Er muss die ökonomische Logik der Kapitalakkumulation auf der Ebene des Weltmarktes und die politische Logik der Machterweiterungen in globalen Konflikten verbinden. Die Bundesrepublik jedoch gilt gerade mal als das mächtigste mittelgroße Land der Welt - mehr nicht.

Betrachten wir allerdings den Tabellenstand der globalen Champions League der Kapitaleigner, also der souverän agierenden Superreichen, dann ist die deutsche Mannschaft seit Anfang des Jahrhunderts leichtfüßig in die Spitzengruppe vorgestoßen und hat der deutschen Republik nebenbei weltmeisterliche Ungleichheitsquoten verpasst. Und im Fall Ukraine zeigt sich die Bereitschaft, diese Politik nicht bloß diplomatisch durchzusetzen.

Zu keiner Zeit war der EU-Block in eine solche Fülle gewalttätiger Konflikte verwickelt wie gegenwärtig im Süden und Osten Europas und an seinen »nachbarschaftlichen« Grenzzonen. Diese Politisierung des Außenverhältnisses der EU reflektiert ihr Agieren als Imperialmacht: Imperien sind nicht, sie werden. Expansion ist ihre Logik. »Normalisierung« der deutschen Militär- und Sicherheitspolitik heißt daher in einem »Empire by Invitation« (Geir Lundestad) vorzuführen, dass es an seinen Rändern die Zähne zeigen, einverleiben (Ukraine), abstoßen (Russland) oder ausschließen (Griechenland) kann.

Kosmopolitisch angelegte Diplomatie und Dialogpolitik wird verknüpft mit einer starken militärischen Hand. Gegenwärtig unterscheidet dieses Modell imperialer Expansion zwischen einem zivilisierten Kern, einer armen Peripherie und einem inferioren Umfeld, das sich als Nachbar, Freund, Partner und Kandidat stückweise bewähren und ein akzeptables Europäertum (»Europeanness«) mit gemeinsamen Werten nach dem Bild des Kerns ausbilden muss, um endlich das finale Upgrade zum höherstehenden Mitglied des Imperiums zu erhalten.

Wenn Deutschland die dritte Karte spielen will, kann dies nur über transatlantische Allianzen und in der EU realisiert werden. Europa ist längst nicht mehr bloß ein »Empire in the making«. Und es geht nicht nur darum, Sheriff, Banker oder Arzt am Krankenbett des globalen Kapitalismus zu spielen. Für Europas herrschende Klassen kommt es langfristig darauf an, ein Projekt zu entwickeln, das es global auf den ersten Platz bringt in der imperialen Liga. Im Moment ist es bestenfalls Mittelfeld. Es ist nicht leicht, ein Riese zu werden.

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