Rückkehr nach Schloss Ettersburg

Alfred Grosser gehört zu den Rettern der Weimarer Herzogsresidenz - nun war er wieder dort

  • Doris Weilandt, Weimar
  • Lesedauer: 4 Min.
Alfred Grosser reist in den Tagen um seinen 90. Geburtstag durch Deutschland und spricht über die deutsch-französischen Beziehungen und die Krisenherde der Welt. Ein Termin im Schloss Ettersburg.

Er sitzt am Kamin im Salon von Schloss Ettersburg, einer Sommerresidenz der Weimarer Herzöge, in einem gemütlichen Sessel und wärmt sich. »Ich mag den Ort. Hier fühle ich mich wohl«, sagt Alfred Grosser. Der große deutsch-französische Publizist, Soziologe und Politikwissenschaftler gehörte einst zum Kuratorium Schloss Ettersburg, das das verfallene Gebäude nach 1990 retten wollte. Das Kuratorium organisierte ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm mit unterschiedlichsten künstlerischen Mitteln, auch unter Bezugnahme auf den nur wenige Kilometer vom Konzen-trationslager Buchenwald entfernten Ort. 1999 wurde eine vor 250 Jahren geschlagene Schneise im Schlosspark wieder freigelegt. Sie ermöglicht den Gang vom Schloss zur heutigen Gedenkstätte auf dem Gelände des KZ Buchenwald.

Anlässlich seines 90. Geburtstages wurde Grosser erneut ins Schloss Ettersburg eingeladen, um eines seiner Lieblingsthemen vorzutragen: Deutschland und Frankreich. Das Geheimnis seiner noch immer fast jugendlichen Ausstrahlung kommentiert Grosser so: »Ich bin auch in schwierigen Zeiten glücklich gewesen.« Trotz weltanschaulicher Unterschiede - sie ist gläubige Christin, er Atheist - hat die Ehe mit seiner Frau 56 Jahre gehalten. »Auch eine Frau soll ihren ungläubigen Mann nicht verstoßen, wenn er einwilligt, weiter mit ihr zusammenzuleben«, zitiert Grosser aus dem ersten Brief an die Korinther und schmunzelt.

Was bedeutet Weimar für Grosser? »Weimar hat kulturell viel für Deutschland getan«, sagt er und meint Goethe und Schiller. Ersterer imponiert ihm nicht so sehr durch seine Dichtungen - »langweilig und die ›Wanderjahre‹ antisemitisch« - sondern als Minister. Schiller berührt ihn als Poet und Historiker, der für die Freiheit gekämpft hat. In der Sommerresidenz des Weimarer Hofes in Ettersburg weilten die beiden wie viele andere Künstler, die das goldene und silberne Zeitalter in Weimar mitbegründeten. Auch die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Buchenwald gehört für Grosser, selbst Zeuge der nationalsozialistischen Vergangenheit, dazu. Der Besuch des Lagers habe ihn immer wieder tief bewegt.

Grosser, der viel zur Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland nach 1945 beigetragen hat, erklärt mit Blick auf die jüngsten Vermittlungsversuche in Sachen Ukraine: »Merkel und Hollande haben sehr brüderlich verhandelt … Doch noch nie war die Kriegsgefahr größer in Europa.« Der Mann, der acht Jahre alt war, als er mit seinen Eltern wegen ihrer jüdischen Abstammung nach Paris emigrieren musste, kennt die Gefahr aus eigenem Erleben. Besorgt analysiert er beide Seiten: die Undurchschaubarkeit Putins, der sich wie Mütterchen Russland emphatisch vor sein Volk stelle. Andererseits: Zu nah sei die NATO seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers schon an die Grenzen des Landes vorgerückt, das Baltikum, Polen und nun auch die Ukraine gehörten nicht mehr zu den befreundeten Nachbarn. Grosser stellt aber auch klar: »Russland ist keine lupenreine Demokratie. Stalin wird heute wieder verherrlicht.« Schwenk nach Griechenland: Dort sieht er die Griechen in der Pflicht, Steuern für Ländereien und gemachte Geschäfte einzutreiben. Auf der anderen Seite versteht er die Forderung, dass Deutschland Reparationszahlungen leisten soll: »Der Zwei-plus-Vier-Vertrag ist kein Friedensvertrag.« Und wieder zurück zu Deutschland und Frankreich: »Der Vater von Marie le Pen könnte der Chef von Pegida sein«, erklärt Grosser mit einem Lächeln. In beiden Ländern gebe es einen Rechtsruck, in Frankreich sei dieser jedoch weniger fremdenfeindlich als in Deutschland. Dass jeder sich selbst der nächste sei, führe zur Zerstückelung der Gesellschaft.

Kritisch sieht Grosser auch den öffentlichen Umgang mit Opfern politischer Gewalt: »Die meisten Opfer in der Welt sind Moslems, auch in Frankreich. Es ist schlimmer, einen arabischen Namen zu tragen als einen jüdischen.« Wie in Deutschland die Pegida-Bewegung, hat der Front National die meisten Wähler in Gegenden, wo kaum Ausländer wohnen - in den reichen Weindörfern des Elsass. Den Ausspruch »Der Islam gehört zu Deutschland« findet Grosser zweideutig: »Gehört der Islam als Religion oder als Kultur zu Deutschland?« Für ihn ist das Christentum auf dem Rückzug, damit gehe eine kulturelle Tradition auch jenseits des Glaubens verloren. Der Auftritt in Weimar lässt hoffen, dass Grosser sich noch lange als kritischer Geist in die politischen Debatten der Gegenwart einmischt.

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