Die Familie macht das schon

Bundesregierung verzögert Reformen und lässt Angehörige von Pflegebedürftigen im Stich

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.
4000 Experten aus Pflege und Politik treffen sich bis Sonnabend in Berlin, um über die Herausforderungen für die Pflege zu debattieren. Momentan tragen Angehörige die größte Pflegelast.

Pflegeexpertin Pia Zimmermann von der LINKEN-Fraktion im Bundestag glaubt den Zahlen des Statistischen Bundesamtes nicht. Sie weisen eine steigende Anzahl von Pflegebedürftigen aus. 2,63 Millionen Menschen waren es Ende 2013. Mehr als zwei Drittel von ihnen, das sind 71 Prozent, wurden zu Hause versorgt. Größtenteils erhielten sie Pflegegeld und wurden in der Regel allein durch Angehörige betreut. In Pflegeheimen lebten insgesamt 764 000 Menschen.

Die Statistik zeichne ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit, findet Zimmermann, die reale Zahl der Pflegebedürftigen sei deutlich höher. All jene, die aufgrund des überholten gesetzlichen Pflegebegriffs nicht anspruchsberechtigt sind, würden nicht erfasst, beispielsweise Menschen mit demenziellen Erkrankungen.

Zeitgleich mit den Erhebungen der Statistiker begann am Donnerstag in Berlin der bis zum Sonnabend andauernde Deutsche Pflegetag, veranstaltet von den Krankenkassen, dem Deutschen Pflegerat und dem Deutschen Städte- und Gemeindebund. Über ökonomische Interessen und die Präsentation von Branchenprodukten hinaus geht es auf dieser im vergangenen Jahr ins Leben gerufenen Veranstaltung auch um den Austausch über Pflegetendenzen, gesellschaftliche Entwicklungen und politische Forderungen. Einige von denen stehen schon seit Jahren im Raum wie die Erarbeitung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes, um den sich bereits mehrere Bundesregierungen in der Vergangenheit herumdrückten.

Der Präsident des Deutschen Pflegerats, Andreas Westerfellhaus, erinnerte daran, dass 1,1 Millionen professionelle Pflegerinnen und Pfleger die mit Abstand größte Berufsgruppe in Deutschland seien. Pflege müsse mindestens den gleichen Stellenwert wie Energie- oder Umweltpolitik einnehmen.

83 Prozent der Pflegebedürftigen sind über 65 Jahre und mehr als ein Drittel über 85 Jahre alt. Im Vergleich zum Jahr 2011 erhöhte sich 2013 die Zahl der Pflegebedürftigen um fünf Prozent. Dies sei vor allem auf die älter werdende Bevölkerung zurückzuführen, erklärte ein Sprecher des Statistischen Bundesamtes. Beim Pflegegeldbezug habe es ein Plus von 5,4 Prozent und bei den Betroffenen, die von ambulanten Dienste betreut wurden, von 6,9 Prozent gegeben. »Der größte Pflegedienst in Deutschland ist die Familie«, sagte der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, zu der Entwicklung. »Die Tendenz hält an, bis zuletzt zu Hause zu bleiben. Selbst wenn dort nicht alles perfekt ist – man ist daheim.« Bei der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung habe es die Bundesregierung jedoch nicht erreicht, diesen Trend zu berücksichtigen.

Seit Januar 2015 ist eines von zwei neuen Gesetzen in Kraft, die den Namen Pflegestärkungsgesetz tragen und mit einer Erhöhung des Beitrages zur Pflegeversicherung um 0,5 Beitragssatzpunkte einhergehen. Davon kommt aber nur ein Bruchteil als Entlastungsleistung den pflegenden Angehörigen zugute. Ein zweites Teilgesetz soll noch in dieser Legislaturperiode einen erweiterten Pflegebegriff einführen. Damit würden mehr Menschen in den Genuss von Pflegeleistungen kommen, es würde aber auch mehr Geld gebraucht. Vollkommen unberücksichtigt sind in dieser Rechnung dringend nötige Verbesserungen in Pflegeheimen, das heißt: mehr qualifiziertes Personal.

LINKE und Patientenschützer sind nicht die einzigen, die heftige Kritik an der Verzögerungstaktik der Regierung üben. Der Präsident des Sozialverbandes Deutschland, Adolf Bauer, fordert, die Pflege-Großreform nicht länger hinaus zu schieben und unverzüglich Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel in der Pflege zu ergreifen. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach plädiert für eine bundesweit einheitliche Personalbemessung und deutlich bessere Bezahlung der Pflegekräfte auf der Grundlage eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages., der den Wettbewerb um die niedrigsten Löhne beendet.

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