Sprung in den Himmel

Wolfgang Herrndorfs posthumer Roman »Bilder deiner großen Liebe« auf der Bühne in Dresden

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Buch ist es die Schluss- und Schlüsselszene: Aus der Mündung der Heckler & Koch P8, um die das aus der Psychiatrie entlaufene Mädchen Isa seine Hand krallt, faucht die Patrone steil in die Luft: »Ich sehe mit offenem Mund der Kugel hinterher, sehe sie steigen, sehe sie immer kleiner und kleiner und fast unsichtbar werden im tiefdunklen blauen Himmel, bevor sie sich aus dem Verschwundensein wieder materialisiert und zu fallen beginnt, millimetergenau zurück in den Lauf der Waffe.« - Wie anders als mit den Mitteln des Films, computeranimiert, in Slow Motion und rückwärtslaufend, wäre dieses so suggestive, dabei so unrealistische Bild vor Augen zu führen? Wie inszeniert man das, wenn nicht als Video, auf dem Theater?

Gar nicht. Lea Ruckpaul, die in Jan Gehlers Romanadaption die Isa ist, steht aufrecht im Halbdunkel und spricht mit abgrundhoher, weltklugnaiver Isa-Stimme Wolfgang Herrndorfs Worte. Nichts als ihre Silhouette ist dabei zu sehen, der zarte Körper im Gegenlicht, zerbrechlich, dabei biegsam und unverbrüchlich. Das hängende T-Shirt, die enge Leggins, der Pferdeschwanz. Ruckpaul, abseits der Bühne doppelt so alt wie die vierzehnjährige Romangestalt, ähnelt der Isa, die ich mir beim Lesen vorstellte, äußerlich nicht: Gepflegt sieht sie aus, nicht zerzaust; man sieht die Schatten auf ihrer Seele nicht. Aber man spürt sie, Isas Frechheit, ihre Verrücktheit, ihr Selbstbewusstsein, ihren lebensbejahenden Weltzweifel, von Minute zu Minute mehr. Ruckpaul schlüpft in ihre Figur wie in ein paar enge, elastische Schuhe. Der Schuhanzieher, das ist Herrndorfs Text. Dabei ist das Fußkleid unsichtbar; Isa, Ruckpaul, ist barfuß.

»Bilder deiner großen Liebe« heißt der »unvollendete Roman«, der erst vor einem halben Jahr erschienen und nun bereits in Gehlers Kammerspielversion im Kleinen Haus des Dresdner Staatsschauspiels uraufgeführt worden ist. Gute Freunde hatten die Isa-Episoden aus Wolfgang Herrndorfs Nachlass zu einem Ganzen gefügt, nachdem der Autor seinem Krebsleiden im August 2013 durch einen Kopfschuss ein Ende bereitet hatte. Isa, deren Wegen und Irrwegen wir hier folgen, durch Dörfer und Wälder, durch einen Haufen beschädigter Leben und in eine weltenerschaffende Fantasie, durch dreckige Erdlöcher und bis in die unerträgliche Unendlichkeit des Alls, diese Isa spielte schon in Herrndorfs Millionenbestseller »Tschick« eine Rolle. Dessen zahlreiche Theaterbearbeitungen zogen in den vergangenen Jahren mehr Zuschauer an als jedes andere Stück. Auch die ebenfalls von Jan Gehler besorgte »Tschick«-Adaption am Dresdner Theater, ebenfalls mit Lea Ruckpaul als Isa, ist ein nicht enden wollender Erfolg. Der Verdacht liegt nahe, dass man auf dieser Welle weiterreiten möchte. Was aber auf der kargen Bühne (Sabrina Rox) zu erleben war, ist alles andere als Leichenfledderei. Unaufdringlicher als hier kann man dem Schriftsteller Wolfgang Herrndorf - und seinem Werk - kaum huldigen.

Die Bühne ist eine schwarze, schräge Ebene, dahinter eine weiße Leinwand, die manchmal als Projektionsfläche konturenarmer Schattenspiele dient. Sonst nichts. Einige Bodenquadrate werden zu Schlupflöchern, wie mit einem Deckel lässt sich damit eine Episode abschließen, eine neue eröffnen. Schräg aufgestellt, verwandeln zwei der Quadrate sich zu den Segeln eines Lastkahns, und es stört nicht, dass ein Lastkahn gar keine Segel hat. Der materielle Minimalismus des Bühnenbilds - und der gesamten Inszenierung - mögen nebenbei den Theateretat schonen. In erster Linie aber überzeugt diese Kargheit ästhetisch, weil sie alle Konzentration auf die Worte lenkt, und auf die Weise, wie Lea Ruckpaul diesen Worten Geltung verschafft.

Ein Solo ohne Requisiten also? Ja. Und nein. Denn da ist, unübersehbar, ja auch noch Holger Hübner, ein Koloss von Mann. Der plumpe Riese sitzt schon am Bühnenrand, bevor es losgeht und Isa alle Augen auf sich zieht. Sitzt da wie hingeplumpst - und schweigt. Isa, die gleich lossprudelt, weil sie im Kopf so viele Gedanken hat, scheint ihn gar nicht zu bemerken - auch dann nicht, als sie ihn längst benutzt. Hübner, ein Requisit - wie die grüne Herrndorf-Trainingsjacke, deren Ärmel Lea Ruckpaul einmal sogar zu einem taubstummen Jungen zu animieren weiß.

Ruckpaul, sie reicht Hübner kaum bis zur Schulter, zerrt den Riesen über die Bühne, weil er ihr Staubsauger ist. Sie bricht in ihn, den Laden, ein und wühlt in seinen Taschen nach Essen. Sie blättert in ihm, dem Buch. Schneidet Zwiebeln auf seinem Rücken - tack, tack -, wenn er sich zur Küchenarbeitsplatte krümmt. Schmiegt ihn, ihre Schultüte, eng an sich. Lässt seine großen Hände über ihre Schultern krabbeln: ein Weberknecht. Spät erst wird Hübner zum handelnden Menschen, spricht irgendwann den ersten Satz, gibt dann, auf dem Kahn, in tollem Wechselspiel mit Ruckpaul den Kapitän, der diese irre Geschichte erzählt. Wie er vor Jahren zum Bankräuber geworden sei, abgeschnitten von der Beute, nicht in der Lage, irgendwem von dem Raub zu erzählen, der wie eine Hypothek auf ihm lastet, wie ein Traum, der nie vergeht.

Und am Ende also die Kugel aus der HK P8. »Ich habe mein ganzes Leben darüber nachgedacht«, sagt Isa kurz vorher, »wie ich mich umbringen würde, wenn ich mich umbringen würde. Ich würde Tabletten schlucken und mich dann auf den Rand eines Hochhauses setzen, damit ich runterfalle, wenn ich müde bin. Das wollte ich schon mit fünf. Ich meine, ich wusste, dass ich so sterben will: fallen.« Die Kugel, die aus dem Lauf in den Himmel schießt, um zurück in die Mündung zu: fallen. Das Mädchen, das einfach losläuft ins Leben, um dann vor dem Abgrund zu stehen, der an ihm zerrt, »aber ich bin stärker«.

Ist es wirklich Nihilismus, der aus diesem Jugendbuch des todkranken Wolfgang Herrndorf spricht? Nur, wenn man den unaushaltbaren Widerspruch zwischen Moment und Ewigkeit, zwischen Leben und Tod, zwischen dem Stückchen feuchter Erde, auf dem man steht, und der kalten Weite des Alls nicht als das begreifen kann, was er für Isa ist: der Weg, auf dem sie geht. Das Leben.

Nächste Vorstellung: 23. März

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