»Alles andere als modern«

Gewerkschaft und Homosexuellenverbände äußern Kritik am neuen Rahmenlehrplan

Neben den Geschichtslehrern laufen inzwischen die Gewerkschaft GEW, ihre Arbeitsgemeinschaft Schwule Lehrer sowie der Schwulen- und Lesbenverband Sturm gegen den neuen Rahmenlehrplan.

Die Kritik am neuen Rahmenlehrplan für Schulen in Berlin und Brandenburg schlägt dem Senat inzwischen von allen Seiten entgegen. Neben den Geschichtslehrern, die vor allem wegen des neuen Lernkonzepts in den Klassen 5 und 6 auf die Barrikaden gehen, haben inzwischen auch die Lehrergewerkschaft GEW Berlin zusammen mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund, der Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg (LSVD) sowie die AG Schwule Lehrer der GEW umfangreiche Mängel am Konzept ausgemacht.

Die GEW stellte am Dienstag einen ganzen Katalog mit Anmerkungen zur Anhörungsfassung des Senats vor. Deutlich wird vor allem, dass sich sowohl die Gewerkschaft als auch die Verbände gewünscht hätten, schon in der Entstehungsphase des neuen Rahmenlehrplans eingebunden gewesen zu sein. Anzubringen haben sie nun genug. Der Lehrplan soll ab dem Schuljahr 2016/17 gelten und wird alle zehn Jahre neu festgelegt.

Die GEW kritisiert, dass weder sie noch der DGB oder Migrantinnenverbände oder Elternvertretungen an der Ausarbeitung beteiligt waren. Zwar sei ein gemeinsamer Lehrplan für die Klassen 1 bis 10 eine begrüßenswerte Entwicklung, sagt die GEW-Vorsitzende Sigrid Baumgardt, aber in der Umsetzung werde der Entwurf seinem Anspruch nicht gerecht. Insbesondere das neue Niveaustufenmodell, wonach die Leistung der Schüler eingeschätzt werden soll, stelle das bisherige Notensystem infrage. Die bis zu fünf Niveaustufen, die in einer Klasse herrschen, seien nur schwer in Erwartungshorizonte zu münzen. »Wie soll die Erwartung an eine Hauptschul-Eins im Vergleich zu einer Gymnasial-Eins aussehen, wenn beide Schülertypen in einer Lerngruppe sind« versucht Nuri Kiefer, Schulleiter an der Hannah Höch Gemeinschaftsschule, das komplexe Stufensystem zu veranschaulichen. »Das bisherige Notensystem gibt dem Lehrer nicht die Instrumente an die Hand, die er für dieses System braucht«, sagt Kiefer. Wie eine Leistungsbewertung an inklusiven Schulen aussehen soll, sei gar nicht geklärt.

Neu in der Debatte um den Rahmenlehrplan ist auch die deutliche Kritik aus Homosexuellenverbänden. Über den Umgang mit dem Thema Sexualerziehung äußern sich sowohl die AG Schwule Lehrer der GEW als auch der LSVD besorgt. »Wir haben mit Erschrecken festgestellt, dass die Sexualerziehung in den neuen Rahmenlehrplänen so gut wie nicht mehr stattfindet«, sagt Kiefer, der auch Mitglied der AG Schwule Lehrer ist. »Der Rahmenlehrplan ist ein deutlicher Rückschritt und alles andere als modern.« Konkret bedeutet das, das im neuen Lehrplan der ergänzende Hinweis A V 27 nicht mehr auftaucht, der laut Kiefer bisher Bestandteil des Rahmenlehrplans war und u.a. auf ein gleichgeschlechtliches und bisexuelles Leben und Transsexualität eingeht. Auch Sex bei Behinderungen oder sexuelle Gewalt spielen eine Rolle. Kiefer zitiert auch aus einem Brief der Bildungsverwaltung, in dem es heißt, man erinnere an das Beispiel Baden-Württemberg. Dort sei eindrücklich bewiesen worden, was geschehe, wenn man sich bei diesem Thema zu weit nach vorn wage.

All ihre Anmerkungen hat die GEW in einer Stellungnahme zusammengefasst. Das Anhörungsportal, das die Bildungsverwaltung extra geschaffen hat, biete keinen ausreichenden Platz für strukturelle Kritik, so Klaudia Kachelrieß, Referentin für den Bereich Schule bei der GEW. Noch bis Ende März werden vom Senat alle Anregungen gesammelt, bis Mai soll die Kritik ausgewertet sein. Bisher seien laut GEW über 2000 ausgefüllte Onlinefragebögen und 380 schriftliche Stellungnahmen eingegangen. »Man braucht schon viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie das alles eingearbeitet und umgesetzt werden soll«, sagt Baumgardt. Was den Lehrern und Schulen schließlich bei der wie auch immer gearteten Umsetzung fehlen wird, ist Zeit. »Wir müssen uns mit einem individuellen Notensystem beschäftigen, Fortbildungen machen und ggf. ein vom Lehrplan gefordertes individuelles Schulprofil aufstellen«, sagt Kiefer. Die Linksfraktion im Abgeordnetenhaus unterstützt unterdessen die Idee, dass bereits ab August erste Modellschulen mit dem neuen Lehrplan starten könnten - wenn bis dahin überhaupt eine verbindliche Fassung steht.

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