Entdecken, was zu entdecken geht

Hermann Keller wird 70 und will mit seinen Kompositionen auch heute alles andere als nur gefallen

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Hermann Keller komponiert nach wie vor «Partiturmusik». Meist Werke für kleinere Räume, Solostücke für Piano, Trios, Quartette, Quintette, begleitete Vokalmusik und vieles mehr. Störrische groß besetzte Stücke hat er auch gemacht. Etwa das Klavierkonzert Nr. 1, Wurf eines Rebellen, das Anfang der 80er Jahre im Neuen Gewandhaus Leipzig mit dem Gewandhausorchester unter Heinz Holliger erklang. Keller spielte selber den Solopart. Ein Riesenerfolg.

Derlei rumorenden Scharfsinn will heute offenkundig kein Haus mehr. Die meisten Betriebe bügeln glatt und geben jenen Schöpfern den Vorzug, die wie Wolfgang Rihm oder Jörg Widmann, zweifellos Begabungen, Gefälliges in die Säle schicken. Das geht bei dem Jubilar nun gar nicht. Keller, Quergeist, will alles andere als nur gefallen. Er will entdecken, was zu entdecken geht, wenn er am Klavier improvisiert oder über Präparationen in ebenso irdische wie sphärische Klangwelten führt. Dergleichen zu verwirklichen, braucht der leidenschaftliche Künstler Widerparts, etwas, woran er sich abarbeiten kann. Die Unbilden des Betriebs, seine Eitelkeiten und Ränke genügen hierfür nicht, davon will er eigentlich nichts wissen. Das wacklige große Ganze, das jederzeit in die Luft gehen kann, beschäftigt ihn und facht seine Kreativität an. Kellers Musik will wahr, echt, vital sein und auch so wirken.

Der Komponist bedenkt, bevor er gestaltet. Eine Selbstverständlichkeit? Keineswegs. Aus dem «Bauch» heraus geht nichts bei ihm. Statt Obsessionen zu frönen, experimentiert er viel lieber, formt die Dinge mit Bedacht. Unstillbar sein Wissensdurst. Er forscht so intensiv am Material wie weiträumig um es herum. Jazzidiome sind für ihn Erscheinungen mit aufregender Geschichte, die nicht einfach übergangen werden darf. Ich, Keller, muss sie mir erklären können, ehe ich mit den Dingen hantiere.

Jahrzehnte sollte es dauern, ehe der Pianist den Versuch wagt, Jazzklänge für sich zu mobilisieren. Kurzum: Materialerforschung gehört unlöslich zu seinem Künstlertum. Ferner - auf technisch-ästhetischer Ebene - die Möglichkeit, Spannungen auszukomponieren, die Dur-Moll-Spannungen etwa oder die Spannungen der Schumannschen Kreuzrhythmik, die Spannungen, die im rhythmischen Fundus der europäischen und außereuropäischen Musikpraxis liegen.

Stoffliche Aspekte meidet seine Musik keineswegs. Dichtung ist für jene substanziell. Seine Trakl-Vertonungen aus den Endachtzigern sprechen für sich. Roswitha Trexler sang seinerzeit die beiden Vertonungen im Theater im Palast. Es gibt auch eine sehr gelungene NOVA-Plattenproduktion. An einer «Musique engagée, die den Namen verdient, ist ihm gelegen. Im Leipziger Neuen Gewandhauses kam zu Jahresbeginn das Stück »Thema und Variationen über die ›Internationale‹ und ›Brüder zur Sonne, zur Freiheit‹« für Sprecher und Klavier. Komisch, während der Zeit, als die Kindesmissbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen ruchbar wurden, wird ihm angesichts der Scheinheiligkeiten, welche Presse und Medien verbreiten, gewärtig, dass, recht besehen, auch er zu den Opfern zählen müsste. Denn die seinerzeitige Wirkung der Kirche auf den Knaben mit Vornamen Hermann sei »tief« und »schlimm« gewesen. Was lag näher, als darüber nach Ausdruck zu suchen. Sein Stück »Was hat man dir, du armes Kind, getan« für Sprecher und Klavier gibt einen Kommentar auf jene unheilige Situation, als das halbe Deutschland unter dem Stichwort Kindesmissbrauch über das Schändliche an sich urteilte, so, als hätten die beiden Weltkriege und lokale Kriege keine Millionen Kinder mit verheizt, nicht zu reden von den Hungersnöten und den gerade für Kinderseelen so verheerenden materiell-geistigen Bedrückungen als Resultate der Katastrophe.

Kellers »Was hat man dir, du armes Kind, getan« behandelt Kriegsfolgen. 1945 in Zeitz geboren, hat er nicht vergessen, was Elend und Zertrümmerung ringsum seinem kindlichen Gemüt zugefügt haben. Dies kompositorisch zu verbildlichen, genügen kleine Wortcollagen mit Material, das seinerzeit Knaben und Mädchen für den Hausgebrauch aus der Bibel empfohlen worden ist und das sie aufsagen mussten, in der Bibelstunde, zu Tische oder vor dem Schlafengehen. Er hätte, berichtet der Komponist, unterm Dach der Kirche oder im Bett nach Gott Vater gerufen, wo doch der eigene Vater sich davon gemacht hatte. Indes, Gebete, damals von jedem halbwegs erzogenen, behüteten Kind hergesagt, zitiert er nicht nur, er denaturiert sie, indem er deren ursprüngliche Inhalte in Rufe der Angst, Gesten der Klage, Gebärden der Trauer verwandelt. Komisches fehlt nicht. Gegen Ende fällt ein Zitat aus Schubert/Goethes »Erlkönig« ein - »... in seinen Armen das Kind war tot.« -, das durchaus heiter erlösend gemeint ist.

An diesem Montag wird der Komponist und Pianist siebzig.

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