Die Zelte auf der anderen Seite

Im Dorf Susya im Westjordanland ist das Leben zweigeteilt - im »C-Bereich« gilt das Recht der israelischen Armee

  • Wladek Flakin, Hebron
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Bewohner des palästinensischen Dorfes Susya südlich von Hebron müssen seit Jahrzehnten in Zelten leben. Doch sie bekommen Unterstützung von ehemaligen Soldaten der israelischen Armee.

Es ist ein sonniger Sonntag auf den Hügeln südlich von Hebron. Nasser Nawaj’ah zahlt 21 Shekel (rund fünf Euro) und betritt die Ausgrabungsstätte in Susya. Dort kann er eine Synagoge aus dem 4. Jahrhundert sehen.

Doch nach wenigen Minuten kommt die israelische Armee und verweist Nasser des Geländes. Sein Geld bekommt er nicht wieder. Die Soldaten sagen, die Anlage sei für Palästinenser gesperrt. Ob es eine gesetzliche Grundlage dafür gibt, ist erstmal unwichtig - hier im sogenannten C-Bereich der palästinensischen Gebiete gilt das Recht der israelischen Armee.

Nasser ist nicht irgendein Palästinenser - 1985 wurde er im Dorf Susya geboren. Zwei Jahre vor seiner Geburt wurde eine israelische Siedlung wenige hundert Meter entfernt errichtet. Diese trägt auch den Namen Susya. Als Nasser ein Jahr alt war, hat die israelische Verwaltung das palästinensische Dorf abreißen lassen, zugunsten der Ausgrabungen. Archäologie ist immer politisch, aber im Nahen Osten besonders.

Seit 30 Jahren lebt Nasser zusammen mit rund 450 Nachbarn auf dem Ackerland auf der anderen Seite der Straße. Dieses Land gehört den Dorfbewohnern, doch die israelische Verwaltung erteilt ihnen keine Baugenehmigung für neue Häuser - es sei ja Ackerland. Deswegen leben die Palästinenser aus Susya in ausgebauten Zelten, mit Außenwänden aus Schalsteinen und Dächern aus Plastikplanen. Auch für diese Zelte gibt es Abrissbefehle, die jederzeit vollstreckt werden können.

Avner und Nasser - zwei, die sich schon lange kennen

An diesem Tag ist Avner Gvaryahu bei Nasser zu Besuch. Der 30-Jährige ist ehemaliger Soldat der israelischen Armee. Während seiner Dienstzeit war er einige Wochen lang in der Siedlung in Susya stationiert - in Sichtweite von Nassers Zelt, wo beide jetzt zusammensitzen. Avner erzählt, wie Soldaten durch die Siedlungen rotiert werden, so dass sie meistens nur eine bis drei Wochen am selben Ort sind. Sie sollen Palästinenser von den Grenzen der Siedlungen fernhalten - müssen sich aber auf Angaben der Siedler verlassen, wollen sie wissen, wo diese Grenzen überhaupt verlaufen.

Die Siedler sind israelische Staatsbürger, für sie ist die Polizei zuständig - ein Palästinenser, der direkt daneben steht, unterliegt dagegen dem Rechtssystem der Armee. Avner kennt Geschichten von israelischen Soldaten, die versucht haben, palästinensische Kinder vor Angriffen der Siedler zu schützen - und dabei krankenhausreif geprügelt wurden.

Avner und Nasser kennen sich, weil sie sich beide für die Rechte der Palästinenser einsetzen. Nasser spricht fließend Hebräisch - gelernt hat er die Sprache im Umgang mit Soldaten, einschließlich 16 Tagen in Haft - und Avner übersetzt ins Englische für andere Besucher. Nasser arbeitet für die israelische Menschenrechtsorganisation B'Tselem und dokumentiert Menschenrechtsverletzungen mit einer Videokamera. Avner arbeitet für die Nichtregierungsorganisation (NGO) »Breaking the Silence« - »Das Schweigen brechen«. Beide zusammen erzählen vom Alltag in Susya.

Billiges Wasser, teures Wasser - vorbei an der Legalität

Direkt neben dem Dorf verläuft eine Wasserleitung - die Palästinenser dürfen sich aber nicht ans Wassernetz anschließen, weil sie nach israelischem Recht illegal auf Ackerland leben. Die israelische Siedlung hat fließendes Wasser, obwohl ihre Existenz gegen das Völkerrecht verstößt. In der Nähe gibt es auch Außenposten der Siedlung, die ebenfalls mit Strom und Wasser versorgt werden, obwohl ihnen von der israelischen Regierung keine Genehmigung dafür erteilt wurde. Die Palästinenser von Susya dagegen müssen ihr Wasser in anderen Dörfern kaufen, für 35 Shekel pro Kubikmeter - etwa das fünf- bis siebenfache von dem, was man in Israel für Wasser zahlt.

»Wäre es eine Frage der Legalität, dann würden die Siedlungen auch Probleme haben«, sagt Nasser, »aber für Palästinenser gibt es einfach keine Gerechtigkeit.« Die israelische Verwaltung legt den Bewohnern von Susya nahe, nach Yatta zu ziehen - die Stadt mit 50 000 Einwohnern liegt einige Kilometer nördlich. Es sei nicht gut für Kinder, in so kleinen Dörfern zu leben, sagt die Militärbehörde. Einwände gegen die Präsenz von Kindern in den teils winzigen israelischen Siedlungen sind von ihr dagegen nicht bekannt.

Nach dem Osloer Abkommen wurden die palästinensischen Gebiete in drei Teile aufgeteilt: Der A-Bereich, etwa 18 Prozent der Westbank, steht unter Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde. Aber auch hier, in den großen Städten, kann die israelische Armee jederzeit einmarschieren.

Der B-Bereich, 22 Prozent des Gebietes, steht unter palästinensischer Zivilverwaltung und israelischer Sicherheitskontrolle. Den C-Bereich, 60 Prozent des Territoriums, verwaltet die israelische Armee allein. Im C-Bereich liegt auch Susya. Junge Soldaten, wie Avner vor einem Jahrzehnt, herrschen hier über Hunderttausende Palästinenser.

Erst als ich anfing, mit ihnen zu reden, habe ich sie als Menschen wahrgenommen.

Avner erzählt von eigenen Erfahrungen und denen anderer Soldaten. »Jeden Palästinenser, den wir verhafteten, haben wir in den Jeep gepackt und ihm in die Fresse gehauen«, erinnert er sich. Auf der Militärbasis musste der Gefangene die ganze Nacht unter freiem Himmel ausharren, frühestens am Morgen wurde er freigelassen. Avner erzählt, wie Soldaten so traumatisiert wurden: »Leute haben sich mit Leichen fotografieren lassen. Ein Kamerad ritzte ein X in den Lauf seines Gewehrs für jeden getöteten Palästinenser.«

Gegen Ende der dreijährigen Dienstzeit fühlte sich Avner immer unwohler. Er verteilte Geld oder Luftballons an palästinensische Familien, wenn seine Einheit bei denen zu Hause einfiel. »Ich kann für alles eine Rechtfertigung finden«, sagt er, »aber ich würde mich selbst belügen.« Aus dem ersten Jahr seines Militärdienstes kann er sich an kein einziges Gesicht eines Palästinensers erinnern. »Die Gesichter sind verschwommen - bis ich anfing, mit ihnen zu reden. Erst dann habe ich sie als Menschen wahrgenommen.«

Dabei wirkt Avner nicht wie ein Radikalinski aus einem besetzten Haus. Aufgewachsen ist er in der Stadt Rehovot südlich von Tel Aviv, das Milieu beschreibt er als »national-religiös« und als Rückgrat des israelischen Staats. Väterlicherseits wohnt seine Familie seit neun Generationen in der Region - seine Mutter kommt aus den USA, weshalb sein Akzent manchmal hebräisch und manchmal amerikanisch klingt. Sein Vater diente als Fallschirmjäger, und für Avner war immer klar, dass auch er Soldat werden würde. »Als ich in eine Eliteeinheit kam, war ich stolz.«

Erst nach seiner Dienstzeit sprach er mit »Breaking the Silence«. Über die Jahre haben Hunderte Soldaten über ihre Erfahrungen in den besetzten Gebieten berichtet, weil sie der Meinung sind, dass die israelische Gesellschaft kollektiv schweigt. »Wir halten unserer Gesellschaft einen Spiegel vor«, meint Avner. Viele Berichte sind nur schriftlich und anonym, aber Avners Gesicht ist auf Youtube zu sehen. Manche werfen dem Ex-Soldaten Verrat am eigenen Land vor, aber für ihn ist diese Offenbarung »das Patriotischste, was ein Israeli tun kann«.

Ich habe »Werkzeuge«, die mein Vater und mein Großvater nicht hatten.

»Breaking the Silence« organisiert wöchentlich Rundfahrten durch die besetzten Gebiete, sowohl in die Stadt Hebron wie in die South Hebron Hills, wo Susya liegt. Wenn die meisten Teilnehmer aus Deutschland oder den USA kommen, ist die Toursprache Englisch. Doch mehr als die Hälfte der Arbeit der NGO findet in hebräischer Sprache statt, um Israelis mit der Realität der Besetzung zu konfrontieren, die seit 47 Jahren anhält. Die Mitglieder der Gruppe haben keine einheitliche Meinung darüber, wie sie sich das Zusammenleben von Israelis und Palästinensern vorstellen, aber sie wollen die Besetzung beenden.

Mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit können die Ex-Soldaten Palästinenser in Auseinandersetzungen, wie aktuell die Bewohner von Susya, unterstützen. Nasser Nawaj’ah für seinen Teil hat nicht vor wegzuziehen: »Mein Großvater wurde 1948 aus Arad, das jetzt zum Süden Israels gehört, vertrieben. Er ging mit seinem Sohn auf dem Arm und dachte, er würde bald nach Hause zurückkehren. Jener Sohn, mein Vater, wurde 1986 aus Susya vertrieben. Auch er ging mit seinem Sohn, also mit mir, auf dem Arm und dachte, er würde bald wieder zurück sein.«

Nasser möchte nicht mit seinem Kind wegziehen. »Aber ich besitze auch ›Werkzeuge‹, die mein Vater und mein Großvater nicht hatten.« Er nutzt Videokameras, soziale Medien und auch Besuche von Touristen, um diese, seine Geschichte bekannt zu machen.

www.breakingthesilence.org.il

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