»Die Tat den Tätern überlassen nicht«

Theatertreffen: »die unverheiratete« von Ewald Palmetshofer, Regie: Robert Borgmann

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 6 Min.

Mütter, die es bereuen, Mütter zu sein, haben jüngst eine noch flackernde Debatte ausgelöst. »Regretting Motherhood« heißt die Studie, die erst in den sozialen (oder asozialen, wie man will), dann in den altehrwürdigen (resp. unzeitgemäßen) Medien die Gemüter erhitzte, diese wie jene. Wäre heute auch ein Theatermonolog noch dazu angetan, eine Welle öffentlich vorgetragener Aufschreie auszulösen, wüsste ich einen, den man mit dem Hashtag regrettingdaughterhood versehen könnte. Er wird von einer Figur gesprochen, die es bereut, eine Tochter, die Tochter dieser Mutter, zu sein. Es ist die »Mittlere« der Frauen in Ewald Palmetshofers Drei-Generationen-Stück »die unverheiratete«.

Einmal also kniet sie, von der eigenen Tochter mit Theaterblut aus einem Blecheimer übergossen und zur Elektra stilisiert, im Erdreich an der Bühnenrampe und deliriert: »in meinen Flammen mit meinen Flammen/ durch sie/ die mein Zorn sind/ verbrenne ich/ verbrenne ich meine Herkunft/ meine Abkunft/ meine Abstammung/ meinen Stamm den Mutterstamm/ dessen Spross ich bin aus dem ich gesprossen/ ich faule Frucht Frucht des üblen Baums/ des Gewächses der Fäulnis das Mutter heißt/ den Stamm und die Wurzel verbrenn ich im Feuer« und immer so weiter und immer hastiger, wie von der Leine gelassen, und bis ihre Tochter sie von hinten in die Arme nimmt und sie schließlich verstummt.

Palmetshofers den Frauenfiguren vorbehaltenes Stück stellt die Frage, ob eine Wahrheit beim Schopf gepackt, ob eine Erbsünde gesühnt, ob ein Fluch, der auf der Familie liegt, an seiner Wurzel gepackt und ausgerottet werden kann. Nicht umsonst sind es Elektra und der Tantalos-Mythos, auf die er sich an besagter Stelle bezieht. Und nicht umsonst ist es die Baum- und Wurzelmetapher, die sich durch das Stück zieht. Am Mittwoch ist »die unverheiratete« (im Dezember 2014 im Wiener Akademietheater uraufgeführt) im Haus der Berliner Festspiele angekommen - eine von zehn zum Theatertreffen geladenen Inszenierungen.

Der Autor, 1978 in Oberösterreich geboren, verarbeitet in seinem lyrisch überformten, ohne Punkt und Komma zu Papier gebrachten Stück einen Vorfall, der sich im April 1945 in seiner Heimat zugetragen hat. Der Krieg war fast beendet, Wien schon gefallen, als ein Wehrmachtssoldat hier von der NS-Justiz verurteilt und standrechtlich erschossen wurde. Warum? In einem Telefonat mit seinem Vater soll er davon geträumt haben, die Uniform abzustreifen und sich von der Truppe zu entfernen. Die Tochter der Posthalterin, die das im Amt geführte Gespräch belauschte, verriet ihn als Verräter und blieb vor dem Kriegsgericht bei ihren Aussagen. Den vermeintlichen Deserteur kostete das - eine Woche vor Hitlers und Kriegs Ende - das Leben.

Das junge Mädchen ist im Stück, inzwischen 96-jährig, »die Alte«. Weil es im Krieg keine Männer und danach nur Krüppel gab, und weil sie ihrer Denunziation wegen in Friedenszeiten zu einer Haftstrafe verurteilt worden war, ist diese »Alte« (wortkarg, knorrig, aber berückend präsent: Elisabeth Orth) spät Mutter geworden. Attribut der »Alten« ist ein an Häkelnadeln hängendes Wollknäuel, in dessen Wirrnis sie sich zunehmend verheddert. Ihre Tochter, »die Mittlere« (mit der einsamen Bitternis einer früh Verwitweten: Christiane von Poelnitz), ist die zweite Frau auf der Bühne - ihr Attribut: die stählerne Axt. Die dritte ist »die Junge« (zuweilen etwas plump, aber stark und wundersam eigenmächtig: Stefanie Reinsperger), Tochter und Enkelin, Anfang, Mitte dreißig. Auch sie trägt ein Symbolding mit sich herum: ein schniefendes Akkordeon.

Zwischen und neben den dreien im Spiel: eine mehrköpfige Einheit, die »hundsmäuligen vier Schwestern« (Petra Morzé, Sylvie Rohrer, Sabine Haupt, Alexandra Henkel), mal als gaffende Gerichtsbeobachterinnen in engelhaften Rüschenkleidern, mal im steifen Dress herrischer Aufsichtsweiber - ob nun im Knast oder im Krankenhaus -, mal in den uniformen Anzügen derjenigen, die immer und überall Recht haben, kommentieren sie das Zeiten und Orte vermengende Geschehen, schlüpfen in wechselnde Rollen und verkörpern - geisterhaft - jene Stimme des ewigen Volkes, die übler zu klingen weiß als die der verurteilten Denunziantin.

Selbst die Dialoge in Palmetshofers atemlosem Text, den die Schauspielerinnen so verständig phrasieren, dass er seine verborgene Klarheit - und seinen punktuellen Witz - offenbart, sind oft monologisch. Regisseur Robert Borgmann, zwei Jahre jünger noch als sein Autor, weiß das zu inszenieren. Sagt die Mutter zur Tochter: Nun lass dich küssen, steht die zehn Meter entfernt. Auch die Bühne mit den zuweilen wie Jo-Jos auf- und niederfahrenden Vorhängen hat Borgmann erfunden: einen Kasten aus Neonröhren wie Gitterstäbe. Der Kubus, der diskohaft flackern und grell zu blenden weiß, steht für den Knast wie für die Enge des dörflichen Hauses. Wie er da steht und flimmert, sich aber partout nicht bewegt, könnte es auch der Rippenkäfig sein, in dem die Herzen der drei Frauen lebenslang eingesperrt sind.

Auf der Einheitsbühne: ein Holztisch samt Stühlen, ein Sessel nebst Lampe und Telefon, ein Pult aus Spiegelglas, ein schrankartiges Portal. Sonst nichts. Nichts als Gräber aus Erde, über die gelatscht und getreten, gestolpert und getanzt wird, in denen man wühlt und in die man sich buddelt, bis sie, die Gräber, verstreut und überall sind.

Was trug sich zu an jenem Tag im April? Was hat es getan mit den Damaligen und den Nachfolgenden? Wer kennt die ganze Wahrheit? Und wem würde sie nutzen?

Auch wenn die Geschichte der »Alten«, deren Ursünde sozusagen, das Stück begründet und antreibt - welche Figur im Brennpunkt dieser Suche steht, verrät der Titel: »die unverheiratete«. Das ist »die Junge«, nicht mutter-, aber kinderlose. Wie beiläufig erfahren wir aus dem gesprochen Text, dass sie mit vielen Männern schläft - als wäre ihr Bett eine S-Bahn, in die man einsteigt, nur um gleich wieder auszusteigen. Männer wie Krieger, wie Eroberer, wie Schänder der Frau, die ihnen dazu dient, vorwärts zu kommen. Nicht Führerin dieser Bahn ist diese »Junge« zwar, aber deren Überwachungskamera. Von denen unbemerkt, schießt sie mit dem Smartphone Fotos der Vorbeireisenden, pikante Details, nackte Körperteile. An Ehe nicht zu denken, noch an Mutterschaft. Von einem Ertappten bedroht und geschlagen, gibt sie am Ende Auskunft, warum sie das tue: »die Tat den Tätern überlassen nicht«.

Aber sie, die ihrer Großmutter näher ist als »die Mittlere«; sie, die sich auf eine Bindung nicht einlassen will noch kann; sie, die mit den Dogmen einer Postmoderne großgeworden ist, die nicht die eine Wahrheit anerkennen kann, sondern allenfalls die Augen der Betrachter - und seien die noch so blind -, sie denkt und spricht Bemerkenswertes: »wie kann das soll mir einer mal erklärn ein Hergang relativ und perspektivisch poly-kontext-irgendwas und das Ergebnis plötzlich nicht weil ist das Sterben absolut und also auch der Weg dort hin das heißt die Tat«.

Palmetshofers »unverheiratete« ist ein Sprachkunst- und Denkstück durch und durch. Umso bemerkenswerter, wie sinnlich nah es auf der Bühne kommt. Das ist dem Regisseur zu danken. Ihm und den starken Charakteren, diesen drei Frauen.

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