Fehlende Worte, fehlende Bilder

Sieben Tage, sieben Nächte: »Flüchtlingswellen«? Über das schnelle Verschwinden der Schlagzeilen über das Massensterben im Mittelmeer

Gegen 7 Uhr morgens am 5. Mai erreicht die Initiative Watch The Med ein Alarmruf von einem Frachter im zentralen Mittelmeer. Über 100 verängstigte und verzweifelte Menschen seien an Bord, das Schiff auf dem Weg Richtung Norden. Wasser und Nahrung fehlen. Im Laufe des Tages kollabieren einige Passagiere. Das UNHCR sowie die zuständigen Rettungsorganisationen sind von Watch The Med benachrichtigt. Am späten Nachmittag kommt die Meldung, dass alle Flüchtlinge in Italien an Land gebracht werden.

Zwei Tage zuvor sind es gleich sieben Schiffe mit mehreren Hundert Menschen an Bord, die vor der libyschen Küste Alarmrufe absetzen. Trotz aller Anstrengungen sterben 15 Personen. Die Dramen, die sich auf den Booten abspielen, kann sich kaum jemand vorstellen. In die Nachrichten schaffen es diese »kleineren« Vorfälle nicht.

Festung Europa
Das Massensterben auf dem Mittelmeer, die tödlichsten Fluchtrouten und die europäische Abschottungspolitik. Ein Dossier von Dario Stefano Dell’Aquila

Nach der Katastrophe vom 19. April, bei der etwa 800 Menschen vor der sizilianischen Küste ertranken, ist es in den Medien recht still geworden um das Meer der Toten. Tatsächlich ist es auch für »neues deutschland« schwierig, nach einem solchen Ereignis adäquat zu berichten. 15 Tote auf Seite 1 nach 800 Toten? Täglich die gleichen Nachrichten stumpfen ab - wie man es von Kriegen und sich wiederholenden Selbstmordanschlägen kennt.

Entscheidet man sich doch für das Thema Flüchtlinge, fehlen häufig die Worte. Unglück ist verharmlosend, Tragödie bezeichnet im eigentlichen Sinn einen unlösbaren Konflikt. Eine juristische Bezeichnung wie fahrlässige Tötung klingt absurd, wenn kein Prozess gegen die Schuldigen geführt werden kann. Katastrophe passt, aber steht schon über dem Artikel zum Erdbeben in Nepal.

Auch Bilder fehlen. Fotos von geretteten Flüchtlingen in Wolldecken lenken ab von jenen, von denen keiner mehr Fotos machen kann. An Leichen auf dem Cover will man sich nicht gewöhnen. Und die Aufnahmen von Schiffswracks kennt man bereits zur Genüge.

In der Bundespolitik geht es kaum um die Menschen, sondern um Verteilung und Finanzierung, um Bund, Länder und Kommunen. Man bemüht sich, nicht untätig zu wirken, ohne an der Abschottungspolitik etwas zu ändern. Wenn Asylbewerberheime brennen, ist die Empörung groß.

»Flüchtlingswellen«, »Flüchtlingsströme«, »Flüchtlingsflut« liest man, wenn über die steigende Zahl von Menschen berichtet wird, die vor Terror, Krieg und Elend in Europa Schutz suchen. Die Metaphern sind nicht nur ideologisch aufgeladen, weil sie die Menschen in Not selbst zur Katastrophe erklären, sondern hochgradig makaber in Anbetracht der Vorgänge auf dem Mittelmeer.

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