Vergangenheit, die nicht vergeht

Die deutsche Linke und der lange Schatten des Stalinismus: über eine Apologie, die wieder Konjunktur hat

  • Christoph Jünke
  • Lesedauer: 9 Min.
Seine Schatten wirft der Stalinismus nicht nur aus der Geschichte zu uns herüber - sondern auch aus der politischen Zukunft - als ein Problem jeder Theorie und Praxis, die auf Veränderung des Status quo abzielt.

Der Stalinismus war und ist zuallererst eine historische Erscheinung und bezeichnet die Ära der Herrschaft Stalins in der Sowjetunion. Die Verbrechen dieses historischen Stalinismus sind im sozialistischen Namen geschehen und wurden jahrzehntelang von vielen Linken gerechtfertigt. Sie waren, sind und bleiben jedoch Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen die sozialistische Idee. Und es bleibt deswegen eine moralische Pflicht der Linken, diese Vergangenheit aufzuarbeiten und den Opfern und Oppositionellen des historischen Stalinismus ein ehrendes Gedenken zu geben.

Stalinismus bezeichnet allerdings mehr als dieses historisch spezifische Gesellschaftssystem, denn das von Stalin mit Gewalt und Tücke begründete Gesellschaftssystem hat seinen Schöpfer nicht nur um Jahrzehnte überlebt, sondern ist auch in anderen historischen und geografischen Kontexten angewandt worden (in Asien wie in Europa, in Afrika wie in Lateinamerika) - nicht in seinen Gewaltexzessen, wohl aber in seinen gesellschaftlichen Grundlagen, Strukturen, Formen und Ideologien.

Der Autor

Christoph Jünke, Jahrgang 1964, arbeitet als Historiker an der Fern-Universität Hagen. Er gehört dem Gesprächskreis Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung an und ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der nordrhein-westfälischen Landesstiftung. Nach dem Studium in Köln und Bochum wurde Jünke mit einer Arbeit über Leo Kofler promoviert. Kofler, der österreichisch-deutsche Marxist und Jude, hatte zunächst in der DDR gelebt und gearbeitet, war nach politischen Auseinandersetzungen Anfang 1950 aber aus der SED ausgetreten und nach Köln übergesiedelt. Jünke forscht zudem über den sozialistischen Wirtschaftswissenschaftler Viktor Agartz. Von ihm erschien 2007 »Der lange Schatten des Stalinismus: Sozialismus und Demokratie gestern und heute« (bei ISP Köln) und zuletzt: »Leo Koflers Philosophie der Praxis« (bei Laika Hamburg).
Der vorliegende Text ist eine gekürzte Fassung eines Vortrags, den Jünke auf der Begleitveranstaltung zur Ausstellung »Ich kam als Gast in euer Land gereist ... Deutsche Hitlergegner als Opfer des Stalinterrors. Familienschicksale 1933–1956« Anfang März 2015 bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg in Stuttgart gehalten hat.
Die vollständige Fassung des Textes ist als Standpunktepapier der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienen und steht hier zum Download bereit: www.rosalux.de/publication/41480

Stalinismus ist vor diesem Hintergrund nicht nur eine historische Erscheinung, sondern auch und nicht zuletzt eine politische Theorie und Praxis, eine spezifische Art des politischen Denkens und Handelns, die sich als solche sogar von der Person Stalins und vom sowjetrussischen Beispiel vollkommen abzulösen vermag. Nichtsdestotrotz fühlen sich auch linke Menschen mit einer gewissen Logik immer wieder genötigt, den historischen, sowjetrussischen Stalinismus zu beschönigen, zu verteidigen und zu legitimieren. Und genau diese Apologie hat heute wieder Konjunktur in linken Subkulturen, Organisationen und Zeitschriften, wie ich im Folgenden an zwei herausragenden Beispielen, an zwei intellektuellen Vordenkern der deutschen Linken, aufzeigen möchte.

Der erste hier zu nennende Autor ist der italienische Altphilologe und kommunistische Historiker Luciano Canfora, dessen Buch »Eine kurze Geschichte der Demokratie« vor nun fast zehn Jahren erschien (und seitdem mehrere Auflagen erlebt hat), eine umfassende Debatte in der deutschen Presse auslöste und bei der deutschen Linken überwiegend Zustimmung und Beifall gefunden hat. Treffend zeigt Canfora auf, dass die Geschichte der Demokratie nicht so sauber zu trennen ist von undemokratischen Tendenzen, wie ihre VerfechterInnen gern glauben machen wollen. Schon immer, so seine an sich nicht neue These, wurde dem welthistorischen Siegeszug der Demokratie eine gehörige Portion Oligarchie beigemischt. Canfora schreibt deswegen die Geschichte der Demokratie vor allem als Geschichte einer Ideologie, als Geschichte eines falschen Bewusstseins und eines Manipulationszusammenhangs.

Die Demokratie war aber niemals nur die Geschichte ihrer Instrumentalisierung von oben. Sie war immer auch und vor allem eine Geschichte des Aufbegehrens von unten, eine Verschwörung der Gleichen, wie Gracchus Babeuf einmal sagte. Demokratie war immer auch und vor allem eine Geschichte der gegen die herrschenden und regierenden Eliten gerichteten demokratischen Bedürfnisse, Forderungen und Bewegungen, in denen es gleichermaßen um Inhalte wie Formen ging.

Für Canfora ist Demokratie hingegen keine Verschwörung der Gleichen, sondern eine Verschwörung der herrschenden Eliten. In seinem Buch findet sich die Demokratie als machtvolles Mittel der Emanzipation nicht. Wir finden bei ihm auch keine Verteidigung demokratischer Werte, demokratischer Bedürfnisse und demokratischer Formen.

Demokratie ist nämlich beides: eine sozialgeschichtliche Bewegung ebenso wie eine konstitutionelle Form, eine jahrtausendealte Form politischer und sozialer Freiheitsbewegungen ebenso wie ein Set historisch spezifischer Rechte und Institutionen. In schlechter linker Tradition verabsolutiert dagegen Canfora die Idee einer sozialen Demokratie, die Idee einer Ausdehnung der Prinzipien politischer Demokratie auf die Ökonomie und das Soziale, zur prinzipiellen Absage an demokratische Formen, zur erziehungsdiktatorischen Herrschaft einer Minderheit, die sich um demokratische Formen nicht zu kümmern brauche.

Es ist deswegen kein Zufall, dass der ganze zweite Teil des Buches, in dem es um das 20. Jahrhundert geht, eine einzige große Apologie des historischen Stalinismus ist. Weil sich für ihn die alte Idee einer sozialen Demokratie im einstmals real existierenden Sozialismus verkörpert, ist Canfora gleichsam gezwungen, das gesamte Programm stalinistischer Logik und Argumente, die ganzen stalinistischen Mythen, Vorurteile und Verleumdungen nachzubeten. Selbst Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden auf diesem Wege gerechtfertigt - denn ist es nicht so, fragen PhilostalinistInnen wie Luciano Canfora gern, dass sich auch die bürgerlichen Revolutionen als Wegbereiter historischer Emanzipation solcher Mittel bedient haben?

Mit dieser fragenden Argumentation sind wir beim zweiten Vordenker des zeitgenössischen Neostalinismus, bei dem italienischen Philosophen und Historiker Domenico Losurdo, der in seinen Arbeiten bürgerliche und sozialistische Revolutionsprozesse nicht nur vergleicht, sondern diese, in politischer Absicht, geradezu in eins setzt. Auch Losurdos neuestes Buch, ein Buch ausgerechnet über Stalin, ist kein wirklich historisches Werk. Es ist ein ebenso wirres wie stalinistisches Amalgam, das willkürlich und verzerrend argumentiert und (fast) ohne jede Methodik auskommt. Auch hier bedient er sich wesentlich des Vergleichs. Doch zwei Dinge zu vergleichen, heißt für den vermeintlichen Antitotalitaristen Losurdo, zwei Dinge einander gleich zu machen, um schließlich zu behaupten, dass man, wenn eh alles gleich ist, auch für Stalin und den Stalinismus sein dürfe.

Losurdos Stalin-Buch ist wissenschaftlich ein Witz, intellektuell erschütternd schmalbrüstig, politisch ein Skandal und moralisch eine Zumutung. In Deutschland jedoch wird es von einem undogmatisch linken Verlag wie dem PapyRossa Verlag (in großen Auflagen) verlegt und massiv beworben, ohne dass die deutsche Linke aufschreit. Publizistische Lorbeeren erntete es nicht nur in der »jungen Welt«, den »Marxistischen Blättern« und anderen einschlägigen Zeitschriften, sondern auch in der »Zeitschrift für marxistische Erneuerung« und sogar in »neues deutschland«.

Die Arbeiten von Canfora und Losurdo stehen hier nur als herausragende Beispiele für das, was ich den Philo- und Neostalinismus nenne - es ließen sich viele weitere nennen, namhafte wie weniger namhafte. Und doch ragen die beiden heraus, gerade aufgrund der breiten Zustimmung, die sie in der deutschen Linken erfahren haben, gerade aufgrund ihrer Rolle als intellektuelle Vordenker.

Gerade weil der Stalinismus mehr war und ist als nur eine bestimmte historische Erscheinung, gerade weil er auch und nicht zuletzt eine politische Theorie und Praxis, eine bestimmte Form des politischen Denkens und Handelns war und ist, lebt stalinistisches Denken in philostalinistischen Apologien wie denen von Canfora, Losurdo und anderen nicht nur fort, sondern wird von ihnen auch immer wieder neu formiert.

Auch wenn es noch keine identifizierbare politisch-organisatorische Strömung des Neostalinismus gibt, so lassen sich politische Bezüge bereits herstellen, denn politisch übersetzt wird solch philostalinistisches Denken, wenn sich Linke innerhalb wie außerhalb der Partei DIE LINKE gesamtgesellschaftliche Emanzipationsprozesse nicht ohne »sozialistische« Geheimdienste und Mauer, nicht ohne »sozialistische« Armee, autoritäre Staatsmänner und internationalen Lagerkampf vorstellen mögen und können und mit Vorliebe gegen vermeintlich »bürgerlich-antikommunistische« StalinismuskritikerInnen auf der Linken wettern.

Nicht der Philo- und Neostalinismus hat es heute schwer auf der deutschen Linken, sondern der Antistalinismus. Und dieses Phänomen erheischt eine materialistische Erklärung. Warum eigentlich, materialistisch gefragt, will diese Vergangenheit nicht vergehen? Warum wirft der historische Stalinismus auch weiterhin einen deutlichen Schatten auf die deutsche Linke? Ein Teil der Antwort findet sich sicherlich in dem üblichen Hinweis, dass es sich bei dem Philostalinismus um eine Altlast der Vergangenheit, bei seinen VertreterInnen um »Ewiggestrige« handele. In der Tat wirkt der historische Stalinismus nach, praktisch wie theoretisch. Man kann wesentliche Teile des gesellschaftspolitischen und sozialphilosophischen Denkens auch unserer Zeit nicht verstehen, wenn man nicht begreift, dass es in vielerlei Hinsicht, zu Recht oder zu Unrecht, eine intellektuelle Reaktion auf die Geschichte und Ideologie des stalinistisch deformierten Kommunismus ist - das gilt nicht zuletzt für hegemoniale Ideologien wie den Postmodernismus und den Neoliberalismus. Auch in Osteuropa ist der Stalinismus mehr als nur gedanklich noch präsent.

Ohne ein Verständnis einstmals »sozialistischer« Bürokratie ist der neue dortige oligarchische Kapitalismus kaum verständlich. Und das größer gewordene Deutschland ist zu einem gehörigen Maß Teil des osteuropäischen Erbes geworden - politisch, ökonomisch wie kulturell.

Woraus speist sich also philo- und neostalinistisches Denken jenseits des bloßen Fortlebens alter apologetischer Traditionen? Meines Erachtens haben wir es hier mit drei spezifisch gesellschaftspolitischen Quellen zu tun. Philostalinistische Tendenzen speisen sich, erstens, aus dem Zustand unseres Sozialstaates. Hatte die mehr oder weniger schleichende Aushöhlung des westdeutschen Sozialstaates bereits in den 1980er Jahren begonnen, führte vor allem der schlagartige Verlust des ostdeutschen Sozialstaates zu Beginn der 1990er Jahre zu einer »Ostalgie«, zu einem teilweise verklärenden Bild vom einstmals real existierenden Sozialismus, das sich im neuen Gesamtdeutschland verstetigt hat. Doch nicht nur das. Auch der hiermit zusammenhängende Zustand der real existierenden bürgerlichen Demokratie fördert den Philostalinismus auf spezifische Weise. Die allgemeine Tendenz zur inneren und äußeren Aushöhlung der Demokratie hat unter den herrschenden Bedingungen von Neoliberalismus und bewaffneter Globalisierung (dem sogenannten Krieg gegen den Terror) ein neues Niveau erreicht und provoziert bei nennenswerten Teilen der Bevölkerung seit vielen Jahren eine Form der »Abscheu vor der Demokratie«. Stalinistisches Denken ist als eine Form des linken antidemokratischen Denkens und Handelns eine der linken Varianten dieser »Abscheu vor der Demokratie«. In Deutschland bietet sie sich gerade den frustrierten und ohnmächtigen Linken an - ob als Form der »Identitätspolitik« oder als vermeintliche »Kraft der Negation«.

Philo- und neostalinistische Tendenzen spiegeln aber, dies zum Dritten, auch unabhängig hiervon die Probleme eines jeden Versuchs wider, vom Kapitalismus zum Sozialismus zu gelangen. Solange über gesellschaftliche Transformationsprozesse über die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform hinaus nachgedacht, diskutiert und politisiert wird, solange wird es auch die Versuchung eines gesellschaftspolitischen Substitutionismus geben, das heißt den autoritären und erziehungsdiktatorischen Kurzschluss einer sich an die Stelle der Bevölkerungsmehrheit setzenden und solcherart verselbstständigenden Avantgarde. Und da eine sozialistische Produktionsweise zwangsläufig eine (wie auch immer durch marktwirtschaftliche Formen aufgelockerte) Planwirtschaft sein wird, stellt sich auch hier das Problem einer demokratischen Steuerung und Kontrolle dieser geplanten Gemeinwirtschaft.

Alle drei zeitgenössischen Quellen des Philo- und Neostalinismus sind miteinander verwoben, und doch analytisch zu trennen. Alle drei Quellen sind keine Altlast der Geschichte, haben nichts mit dem historischen Stalinismus zu tun, sondern wurzeln in der gesellschaftlichen Gegenwart, in der vorherrschenden Politik und der linken Opposition dazu. Der Stalinismus als ein System bestimmter Haltungen und falscher Ideen ist vor allem falsches Bewusstsein, eine Ideologie im marxistischen Sinne des Wortes also - und zwar die Ideologie einer revolutionären Elite, die sich innerhalb eines bestimmten historischen Kontextes in eine antidemokratische Bürokratie verwandelt. Diese sozialistische Bürokratie, das sollten wir nie vergessen, ist Ausdruck eines linken antidemokratischen Denkens und Handelns, das sich als unfähig und unwillig gezeigt hat, sich selbst emanzipativ zu erneuern. Und diese Gefahr einer diktatorischen Bürokratisierung sozialistischen Denkens und Handelns hat sich zwar im historischen Stalinismus auf paradigmatische Weise niedergeschlagen - man kann und darf sie jedoch nicht auf diesen historischen Stalinismus reduzieren.

Vor diesem Hintergrund verstehe ich den langen Schatten des Stalinismus nicht nur als einen Schatten, der aus der Vergangenheit zu uns herüberreicht. Der lange Schatten des Stalinismus ist ebenso ein Schatten, der aus der politischen Zukunft auf uns geworfen wird - als ein Problem jeder politischen Theorie und Praxis, die auf eine Veränderung des Status quo abzielt. Wie immer wir über eine Transformation der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft nachdenken und wie immer wir Schritte in diese Richtung gehen wollen (beides ist dringend genug), sind wir konfrontiert mit den spezifischen Gefahren eines linken Avantgardismus, der sich nicht nur demokratisch, sondern auch elitär äußern kann.

Es hat deswegen in meinen Augen etwas Kurzschlüssiges, wenn wir fordern, unwiderruflich mit dem Stalinismus zu brechen. Als politisch-moralischer Imperativ ist der Bruch mit dem Stalinismus vollkommen richtig. Doch auch wenn wir wollten, können wir nicht unwiderruflich mit dem Stalinismus brechen, weil uns dieser - als spezifisch despotische Form des sozialistischen Kampfes um Emanzipation - solange begleiten wird, solange wir zum Sozialismus streben, aber dort noch nicht endgültig angekommen sind.

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