Wiedersehen in Wisterschan

Ulrich Miksch, Vertriebenen-Enkel, will Deutsche und Tschechen versöhnen

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.

Sein Name, sagt Ulrich Miksch, ist Schicksal. Miksch: Dahinter verbirgt sich ursprünglich der Heilige Nikolaus, freilich in seiner böhmischen Form: Svatý Mikulaš. Das Wort wanderte ins Deutsche zurück, wurde ein wenig abgeschliffen, ein wenig abgekürzt: Miksch. So hießen die Vorfahren seines Vaters. Ansässig waren sie am südlichen Rand des Erzgebirges, unweit der Stadt Teplice, in einer Gegend, in der Tschechen und Deutsche über Jahrhunderte miteinander gelebt hatten. Über die Ortsbezeichnung, die als Geburtsort im Ausweis seines Vaters stand, habe er sich als Kind gewundert, sagt er: Wisterschan. Ein wenig klingt es, als sei sie einem Märchen entsprungen: Es war einmal …

Ulrich Miksch, geboren im Jahr 1968, wuchs auf in Suhl, wo sein Vater bei dem Mopedhersteller Simson arbeitete. Reisen ins Erzgebirge waren von dort nicht eben ein Katzensprung. In einem Urlaub machte sich die Familie auf den Weg. Nicht weit hinter der Grenze, auf tschechoslowakischer Seite, besuchten sie ein Dorf namens Bystřany. Vor einem Haus hielt man an. Hier, sagte der Vater, sei er geboren. Bystřany war, auch wenn jener Name auf keinem Ortsschild mehr stand, das ominöse Wisterschan; der Urlaubsausflug war unversehens zu einer Reise in die Vergangenheit der Familie geworden. Es gibt Fotos von dem Aufenthalt; an ihn erinnern kann sich Ulrich Miksch aber dennoch kaum. Im Gedächtnis blieb anderes - vor allem die Knödel in einer Gaststätte in Teplice.

Die Geschichte seines Vaters und seines 1967 verstorbenen Großvaters, der Bauer in Wisterschan war und mit einem Pferdefuhrwerk etwas Geld hinzu verdient hatte, war nicht seine Geschichte - noch nicht. Miksch begann in Berlin zu studieren, just im Herbst 1989. Er hatte sich erst für Meteorologie eingeschrieben, wechselte dann zur Philosophie; er engagierte sich im Studentenrat und schrieb für die »Unaufgefordert«, eine neue Studentenzeitung an der Humboldt-Universität. Daraus wurde ein Beruf: Seit Abschluss seines Studiums 1997 ist Miksch Journalist; er arbeitete zum Beispiel für die »Neue Zürcher Zeitung« und macht Radio.

Er gehört aber auch der Redaktion der »Brücke« an, dem Mitteilungsblatt der Seliger-Gemeinde. Diese wurde 1951 in Brannenburg in Bayern von Sozialdemokraten gegründet, die das Sudetenland hatten verlassen müssen; sie ist benannt nach Josef Seliger, dem ersten Vorsitzenden der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei (DSAP), die 1919 in Teplice gegründet wurde und zunächst stärkste politische Kraft bei der deutschen Minderheit in der neu gegründeten ersten tschechische Republik war. Miksch, der in Thüringen aufwuchs und nicht in Nordböhmen, ist heute Landeschef der Seliger-Gemeinde in der Region Nordwest. Die Geschichte der Familie hat ihn eingeholt. Es ist die seine geworden.

Das Leben musste dazu seltsame Wege gehen. Nach der Öffnung der Grenzen nahm er Kontakt zu einem Bruder seines Vaters auf, der - anders als dieser - zum Ende des Zweiten Weltkriegs noch Soldat hatte werden müssen, in französische Gefangenschaft geraten war und eine Französin geheiratet hatte. Zugleich pflegte der Onkel aber auch noch Kontakte zu früheren Schulgefährten, die gelegentlich gemeinsam nach Bystřany fuhren. Miksch begleitete den »französischen« Onkel bei Reisen nach Böhmen: »Indem ich nach Westen schaute, eröffnete sich mir der Osten.« Dort entdeckte er eine neue Facette seiner Biografie: Miksch begriff sich als, wie es der Titel eines 2014 erschienenen Buches von Ralf Pasch formuliert, »Enkel der Vertreibung«.

»Vertreibung« ist ein Wort, das für die in der DDR aufgewachsenen Altersgefährten Mikschs einen schalen Klang hat. Die Verbände der Vertriebenen, darunter die Sudetendeutsche Landsmannschaft, galten ihnen oft als Hort des Revanchismus, als Vereine geschichtsvergessener Ewiggestriger, die aus dem Zweiten Weltkrieg nichts gelernt hatten und dessen Folgen umkehren wollten. Zu diesen gehörte die auch in der Tschechoslowakei betriebene nahezu vollständige Aussiedlung der Deutschen. Diese waren in den 1930er Jahren in ihrer übergroßen Mehrheit dem Ruf von Konrad Henlein und dessen Partei gefolgt, die das Sudetenland »heim ins Reich« führen wollte. Die Folgen sind bekannt: das Münchner Abkommen 1938, die »Angliederung« der mehrheitlich deutsch besiedelten Gebiete an den NS-Staat, dann die vollständige Annexion der Tschechoslowakei. Nach Kriegsende galten die Sudetendeutschen kollektiv als schuldig und mussten das Land verlassen. Die Vorfahren Mikschs verpflichtete man zunächst noch zur Arbeit auf einem Bauernhof im Landesinneren; im Sommer 1946 indes landeten auch sie im Sammellager, danach wurden sie per Zug nach Thüringen verfrachtet.

Die Debatte um die Schuld der Sudetendeutschen ist ohne Zweifel berechtigt; die offen nazitreue Henlein-Partei feierte unter der Minderheit schon 1935 Wahlerfolge von über 60 Prozent. Auch der Vorwurf an die Sudetendeutsche Landsmannschaft, die Ursachen der Vertreibung auszublenden und die Ergebnisse des Krieges nicht zu akzeptieren, ist nicht von der Hand zu weisen; erst 2015, also 70 Jahre nach Kriegsende, rang sich der Verband dazu durch, das Recht auf »Wiedergewinnung der Heimat« aus seiner Satzung zu streichen; Kritiker in den eigenen Reihen gehen dagegen aber noch juristisch vor. Ausgewogene Debatten über historische Verantwortung fanden auf den sudetendeutschen Treffen, die regelmäßig zu Pfingsten abgehalten werden und deren 66. Auflage heute in Augsburg eröffnet wird, kaum statt.

Das aber ist, sagt Ulrich Miksch, nicht die ganze Geschichte. Zum einen könnten die Deutschen in der Tschechoslowakei nicht über einen Kamm geschoren werden: »Eine kollektive Schuld gibt es nicht.« Das verkörpert seiner Ansicht nach keine Organisation besser als die Seliger-Gemeinde. Sie steht in einer Tradition des friedlichen Zusammenlebens von Deutschen und Tschechen, beispielhaft verkörpert etwa durch den DSAP-Politiker Ludwig Czech, der von 1928 bis 1938 Minister in Koalitionsregierungen war, gemeinsam mit tschechischen Kollegen. Nach der Besetzung wurde er als Jude und Sozialdemokrat von den Nazis verfolgt und starb 1942 in Theresienstadt. Viele andere seiner Genossen leisteten aktiven Widerstand. »Sie waren gegenüber der Tschechoslowakei bis zum letzten Tag loyal«, sagt Miksch. Verlassen mussten sie das Land nach 1945 fast ausnahmslos dennoch - geschätzt 79 000 der rund drei Millionen ausgesiedelten Deutschen.

Zum anderen ändert das politische Urteil wenig an der Tragik des persönlichen Erlebens. Sein Vater, der seine Heimat als Jugendlicher verlor, habe nicht darüber gesprochen, sagt Miksch; es habe auch in der DDR keine Verbindung zu Schicksalsgenossen gegeben: »Das galt nicht als opportun.« Auch in der Wohnung der Familie in Suhl erinnerte nichts an die Herkunft aus dem böhmischen Erzgebirge, anders als bei einer Nachbarin, bei der Gemälde einen markanten Berg des Böhmischen Mittelgebirges zeigten. Kurz vor seinem Tod jedoch übergab Mikschs Vater dem Sohn eine Sammlung mit Postkarten aus Teplice; auch ein Schmalfilm mit Aufnahmen der Stadt, die der Vater in den 80er Jahren angefertigt haben musste, tauchte auf. Ob er den Verlust je hatte verwinden können, ist offen; vergessen hat er die Heimat um Wisterschan offenkundig nie. Was die Großeltern empfanden, weiß Miksch nicht; auch die Großmutter starb, als er noch ein kleines Kind war.

Der Enkel nun hat ihre Geschichte zu seiner eigenen gemacht - und ist damit kein Einzelfall, wie Ralf Pasch in seinem Buch belegt. In einer Reihe von Porträts stellt er Menschen wie Ulrich Miksch vor, die sich ihrer biografischen Wurzeln im Sudetenland besinnen und sich dessen Vergangenheit aneignen, freilich auf eine andere Weise als die Großeltern und Eltern. Auf die »Erlebnisgeneration« folge jetzt eine »Bekenntnisgeneration«, schreibt Pasch: Menschen, die sich für die Vergangenheit interessieren, weil sie mehr Abstand zu den Ereignissen haben; mehr als die Eltern, die sich »oft der ritualisierten Erinnerung an eine Heimat verweigerten«. Mancher entdeckt dabei nur unbekannte Seiten der Familiengeschichte; bei manchem aber führe das zu einer »über das Private hinausgehenden Beschäftigung«. Sie stellen, so Paschs Beobachtung, oft neue Fragen, die »Bewegung in eine scheinbar festgefahrene Debatte« zum Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen bringen. Dazu gehört im übrigen auch, dass sich immer mehr junge Tschechen mit der gemeinsamen Geschichte beschäftigen und die in Tschechien lange ausgeblendete Erinnerung daran wiederbeleben.

Miksch hält das für enorm wichtig. Die Vertreibung »hat ja nicht nur die Deutschen getroffen, geschädigt und traumatisiert«, sagt er, »sie hat auch Spuren bei den Tschechen hinterlassen, die verlassen wurden.« Die Enkel können darüber unvoreingenommener als die Älteren reden. Statt sich gegenseitig Schuld zuzuweisen, erinnern sie an die Geschichte, auch an deren tragische Aspekte. In Brno, erzählt Miksch, sei 2015 zum »Jahr der Versöhnung« ausgerufen worden; Ende Mai soll an den »Brünner Todesmarsch« erinnert werden, bei dem Ende Mai 1945 Tausende Deutsche auf dem Weg zum Grenzort Pohořelice an Krankheiten und Erschöpfung starben. Zum 70. Jahrestag soll die 32 Kilometer lange Strecke in umgekehrter Richtung zurückgelegt werden - eine bemerkenswerte Geste, findet Miksch.

Es sind dies Aktivitäten, die ganz im Sinne der Seliger-Gemeinde sind. Das »empfindliche Verhältnis« von Deutschen und Tschechen, so steht es in deren 17 Jahre alten »Brannenburger Thesen«, könne »nicht durch Schuldvorwürfe verbessert werden«. Hilfreich und förderlich für die Versöhnung sei »allein die Bereitschaft zu einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte« - und zwar auf beiden Seiten. Man solle, heißt es an die Adresse der Sudetendeutschen wie auch der Tschechen, »nicht nur der eigenen, sondern auch der Opfer der anderen Seite gedenken«.

Miksch gehört zu denen, die etwas dafür tun. Er hat in Berlin ein Dutzend Gleichgesinnte um sich geschart und nimmt erfreut zur Kenntnis, dass auch andere Menschen seiner Generation zur Seliger-Gemeinde und ähnlichen Zusammenschlüssen stoßen - andere Enkel der Vertreibung. Sein Motiv lässt sich auf eine knappe Formel bringen. »Man muss etwas dafür tun«, sagt er, »dass sich so ein Wahnsinn wie im 20. Jahrhundert nicht wiederholt.«

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