Unter Schneewehen

Wiener Festwochen: Martin Wuttke als Ibsens John Gabriel Borkman

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Simon Stone inszenierte Ibsens »John Gabriel Borkman« für die Wiener Festwochen – schnippisch-schnöselig und ärgerlich oberflächlich. Doch der umwerfende Martin Wuttke in der Titelrolle rettet den Abend.

Immer wirkt Martin Wuttke wie ein Mensch, der sich höchst kindlich aufs Tanzen auf einer Eisfläche freut - den man aber nicht darüber informierte, dass deren hauptsächliche Eigenschaft in erbarmungsloser Glätte besteht. Und nun ist der Tänzer paritätisch mit zwei Dingen beschäftigt: dem Staunen über diese ihm unbekannte Eigenschaft des Eises und dem Erschrecken darüber, wie ihm das die Beine wegzieht. So was endet gewöhnlich in atemberaubendem Schweben - als einer schweißtreibenden Notwehr, um nicht auf den Boden zu krachen. Der Schauspieler Wuttke nun, er schwebt sogar noch, wenn er - natürlich! - auf den Boden kracht.

Wuttke ist die Rettung, eine schöne tolle sehenswerte Rettung. Ja, Schau-Spiel kann wirklich retten. Zum Beispiel, wenn am Akademietheater Wien zwei Stunden Lebenszeit fürs notgedrungene Zuschauen bei einer schnippisch-schnöseligen Inszenierung draufgehen müssen. Es gibt ja - ob künstlerisch oder politisch oder weltanschaulich - diese Einfalt der Jüngeren, das »Avanti, avanti!« ihrer forschen, furios undifferenzierten Denkungsart schon für den neuen Avantgardismus zu halten. Der Regisseur Simon Stone ist jung, er ist ein Kurzweilmaniker, jetzt inszenierte er Henrik Ibsen für die Wiener Festwochen. Der Australier surft auf Oberflächen, wo den Stücken dann das wahrlich Absurdeste widerfährt: Sie saufen ab - weil Tiefgang fehlt.

Aber die Rede soll von Rettung sein, also: von Martin Wuttke. Seine wilde, wühlende Kunst kommt aus dem Exhibitionismus, aus dem gummizähen Wahnsinn einer Verausgabung, die zerstörerischer sein will als der Tod und die auf diese Weise zu überraschend irrwitziger Lebendigkeit findet. Wuttke, dieser große Kleinkerl großer deutschsprachiger Bühnen, ist Kobold und Kreatur; Kinski trifft auf Chaplin; des Schauspielers lungernde, lauernde Strahlkraft zeigt in fast all seinen Rollen drohend und drollig an, wie Verletzung und Missachtung in aggressive Kraft umschlagen. Wenn er als Borkman lacht, lacht ein verlarvter Dämon, und im Kokon des tiefsten Ernstes steckt immer auch eine Comic-Figur.

John Gabriel Borkman. Dieser Bankdirekter spekulierte mit fremdem Geld, wurde ertappt, entmachtet und per Gefängnisstrafe zur öffentlichen Schande. Für die Karriere hatte er zudem noch seine große Liebe geopfert - er heiratete deren Schwester, was sich als die laufbahngünstigere Partie erwies. Jahre vergehen. Das verbleibende Leben? Verdrängte Vergangenheit. Alles sehr bekannt. Alles sehr alltäglich. Borkman denkt: Weil er Ausnahmemensch sei, durfte er einst skrupellos sein; weil er Ausnahmemensch bleibe, würde er wieder gebraucht werden. Er ist aber nur der Abgewirtschaftete, der nicht begreift, dass seine Zeit vorbei ist. Der Abgewickelte, der nicht einsehen kann, dass die Stunde längst anderen gehört. Aufeinanderprall. Die Ablagerungen der Illusion werden weggesprengt. Der Klartext, der nun zur Sprache kommt, bringt die Wahrheit. Natürlich auch den Tod. Wer Altes aufwärmt (Beziehungen, Ideen, Pläne, Welten, Utopien), kann nur scheitern und ist lächerlich.

Wuttke trägt eine langsträhnige Zauselperücke: eine Feier auf alle Ungewaschenen und Ungekämmten dieser Welt. Er faselt von den genetischen Versuchen, ein Mammut wiederzubeleben, wirkt selber wie ein Steinzeitmensch im Militärmantel, ein Zottelgruß aus dem Frühstadium der menschlichen Evolution. Sein Zeigefinger ist ein Torpedo. Oder ein Enterhaken. Er reißt, hackt Löcher in die Atmosphäre, wenn diese besinnlich werden will. Es ist der Zeigefinger aus der Tradition der Giftzwerge. Wuttke spielt, als habe er das Nichts erblickt. Zwanghaft starren seine erschüttert großen, irren Augen hinein in dies Leere, in dies Unfassbare hinter dem, was sich so Leben nennt. Wenn Wuttke dieses Wort Leben ausspricht, dann ertönt da nichts, da wird etwas weggespuckt. Dazu ein gehetztes Gesicht, das nie der Tempel wird, der es zu sein wünscht, jener Tempel nämlich der kühnen Ideen wider das Niedrige des Natterngezüchts Mensch; nein, Wuttke zeigt ein unrettbar heimgesuchtes Gesicht; hinter der Stirn ein Gefangenenhaus der Gedanken, lichtlos und dumpf die Züge, unheiter und hässlich, eine hilflos verlorene Physiognomie. Aber freilich ist das die große Kunst Wuttkes: dass er uns bei jeder Fratze doch ein ehrliches Erbarmen entlockt.

Es hat wohl Zeiten gegeben, da glaubte man, ein Ibsen erledige sich - angesichts eines kräftig prosperierenden Bürgertums. Aber nichts ist vergangen. Wahrheit wird von diesem Autor wie Gift gestreut, als verfolge man Ratten in Kellergängen. In Kellergängen des Menschengemüts. Du musst dein Leben ändern? Ist wahr. Du wirst dein Dasein im Grunde nie ändern können! Ist noch viel wahrer. Das sagt uns Ibsen. Sagt es kräftig und zeitlos - während der Regisseur nahezu nichts zu sagen im dünnpfiffigen Sinne hat. So spielt Wuttke in einer Wirklichkeit, die sehr, sehr platt ist. Weil sich Simon Stones Inszenierung nicht absetzt, sondern draufsetzt. Aufs Modern Talking - man plappert sich so flugs wie öde in die Themen Internet, Facebook, Skypen, SMS hinein. Zivilisationskritik auf flachster Digitalsohle. Zwei Stunden rieselt Schnee vor grauer Brandmauer. Die Menschen schneien nicht herein, sie wühlen sich aus dem dicken Flockenteppich. Alles soll flockig sein. Aller Feingeist kabarettungslos verloren - in diesem Schnee von gestern: einem stets nur grobkörnigen Lästern über Moni-Toren und Dis-Player. Schnoddermodder bei den Wiener Restwochen.

Aber eben: Martin Wuttke. Umspielt von der ehrenwerten Kollegenschaft Birgit Minichmayr, Caroline Peters und Roland Koch, erzählt dieser schlurfende, jagende, kreischende, sich krümmende Körper Wuttke die ganz große Wahrheit: Was wir an Wahrhaftigkeit gewinnen, müssen wir an Boden erst verlieren. Dessen Schwanken ist der Stoff für die Kunst. Wuttke zerbricht seine Gestalt zu lauter Scherben, jongliert mit ihnen so clownesk sicher und zugleich hypernervös, und in unser Lachen hinein rauschen ihm diese scharfen Splitter durch den Körper in die Seele, und da vorn steht plötzlich ein blutendes Wesen. Die Knallhärte seiner Vokale, die Schraubkunst und das Schmerzweiche seines zäh und zapplig vibrierenden Körpers: Dieser Borkman ist das, das den Menschen grundsätzlich ausmacht - auf Schwäche nur immer mit gesteigerter Gewalt antworten zu können. Ja, der Mensch schlägt um sich, weil er sich selber ständig verfehlt. Der Schläger aber stets auch als Zerschlagener. Wuttke einmal mehr als ein ganz Großer des fiebrigen, herzerschütternden Vulkanismus. Ein sich bebend Verausgabender, der wahrlich entzündet Borkman ist; verführerisch schmutzig und schmierig und schmiegsam und schaurig. Und schrecklich einsam.

Eine Schwalbe macht keinen Sommer. Ein Wuttke aber erwärmt gegen diesen ganzen Kunstgewerbe-Winter. Auch Regie kann Wutbürger im Publikum schaffen - bürgte einer wie Wuttke nicht für das, was hält und hebt. Schauspiel ist eben manchmal weit mehr, als es nach beschränkter Regiemaßgabe zeigen soll.

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