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Getanzt zu allen Zeiten

Dessaus »Kristallpalast«

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Damen kommen auf die Bühne gestürmt und schminken sich noch mal nach. Mit Blick ins Publikum. So, als wäre die vierte Wand ein großer Spiegel. Dann kommen die Herren und los geht’s. Flott durch die Jahrzehnte. »Ballhaus«, diese Bühnen-Version von Ettore Scolas Films »Le Bal« (1983), funktioniert immer. Als Kreation des Balletts oder des Schauspiels. In Dessau gibt es jetzt eine Mischung aus beidem - weil die sieben nach den drakonischen Kürzungen verbliebenen Tänzer der Truppe von Tomasz Kajdanski doch etwas Mühe hätten, den Tanzsaal zu füllen und das Jahrhundert zu vermessen. Außerdem macht es Spaß, die Schauspieler, die gerade noch im »Götz von Berlichingen« am Werke waren, im Tanzlokal zu beobachten. Wirklich mal bei Schau-spiel, bei dem ja wörtlich genommen die Sprache gar nicht vorkommt. Und weil Kajdanski sich eine Variante ausgedacht hat, die die Geschichte des Kristallpalastes in Dessau erzählt.

Was 1904 als vornehmes Etablissement eröffnet wurde, als Lokal fürs Volks-Vergnügen ebenso gerne genutzt wurde wie für die Volksverführung, was im Ersten und Zweiten Weltkrieg als Behelfslazarett herhalten musste und dem Theater von der Zerstörung an bis 1949 als Ausweichspielstätte diente, verfiel erst nach der Wende so richtig. Gerade noch rechtzeitig daher die Erinnerung auf der Bühne mit dem stimmungsvollen Ruinenambiente. Die sich zurückträumt bis an den Anfang des vorigen Jahrhunderts. So zwischen »Du sollst der Kaiser meiner Seele sein« und »Auf, auf zum Kampf«. Aber so direkt politisch wird es nur selten. Das bleibt eher auf dem »Jawoll, meine Herren«-Level von Heinz Rühmann und Hans Albers.

Einer macht den Polizisten im Wandel der Regime, und über der Bar wechseln sich die staatstragenden Porträts ab - von Wilhelm II. bis Honecker. Bei der ersten Hälfte des Jahrhunderts ist man deutlich darauf bedacht, weder Klassenkampf und Revolution, noch Judenverfolgung oder Krieg und Kriegsverletzungen zu unterschlagen. Zum Kriegsende kommen erst die Amis und dann die Russen. Die Mauer wird im Hintergrund gebaut, wenn vorne »Sandmann, lieber Sandmann« erklingt. Je mehr sich die Nummernrevue der Gegenwart annähert, umso behaglicher wird es im Saal. Der himmelblaue Trabant und der vergessene Farbfilm stehen vor allem dafür, wie bunt manches Alltagsgrau in der Erinnerung noch wird. Über den Versuch, den Lipsi zu etablieren, kann man heute schmunzeln. Irgendwann schwärmen die Tänzer und Schauspieler aus und holen sich Tanzpartner aus dem Publikum. Beim Karat-Hit »Über sieben Brücken musst du gehn« haben sie schließlich den letzten Zuschauer! Da ist das große Mitsingen angesagt und wird dankbar mit Inbrunst und den ausgeteilten bunten Leuchtstäben angenommen.

Der Abend endet im Wohlgefallen, wobei es keine übertriebene Didaktik gewesen wäre, den letzten Titel »Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer« in der Wendejahr-Version von Angelika Weiz zu verwenden.

Nächste Vorstellung: 14. Juni

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