Jedes Jahr Afrika und zurück

Über ein Schweriner Ehrenamtsprojekt, ein Bein, das wie ein Picasso aussieht, und einen Patensohn, der von Lampedusa anruft

  • Christina Matte (Text) und Joachim Fieguth (Bild)
  • Lesedauer: 8 Min.

Als Bundespräsident Joachim Gauck zu Jahresbeginn turnusgemäß verdienstvolle Bürger im Schloss Bellevue empfing, war unter ihnen Anett Kropp aus Schwerin. »Nebenan in Afrika« heißt das Ehrenamtsprojekt, für das sie eingeladen wurde. Wie das Protokoll es vorschreibt, zeigen Fotos von der Zeremonie eine nahezu steingewordene Frau, eine ganz andere als die, der wir dieser Tage begegneten.

Die Frau, der wir begegneten, ist ein Bündel aus Lebenslust, Temperament und Energie. Von einer Migrationsberaterin erwartet man das nicht unbedingt, man denkt an Schreibtisch und viel Papier, aber da irrt man sich. Beim von Anett Kropp geleiteten Migrationsberatungsteam der Arbeiterwohlfahrt im Kreisverband Schwerin-Parchim e.V. stehen persönlicher Kontakt und praktische Hilfe im Vordergrund. Und wenn Anett Kropp schwarzafrikanische Migranten, denen sie bei ihrer Arbeit begegnet, »herzerfrischend« findet, weil die »immer fröhlich, immer gut drauf« sind, dann kann es passieren, dass sie abends zu ihrem Ehemann Ulrich sagt: »Ich möchte mal nach Afrika fliegen! In ein Land, das noch nicht hochindustrialisiert und in dem die Amtssprache Englisch ist, denn Französisch habe ich in der Schule nicht gelernt.« Und dann kann es weiter passieren, dass sie in ein Reisebüro spaziert, dort mit dem Zusatz »Es darf nicht zu teuer sein« ihre Wünsche artikuliert.

2008 flogen Anett und Uli Kropp zum ersten Mal nach Gambia, ein sehr armes westafrikanisches Land, das so gut wie keine Industrie und kaum mehr Einwohner als Mecklenburg-Vorpommern hat. Sie wollten das Land erkunden, außerhalb ihrer Hotelanlage. Schon am dritten Tag ihres Aufenthalts lernten sie am Strand jenen Jungen kennen, der ihr Patenkind werden sollte. Modou war ein sogenannter Bumster, einer der vielen einheimischen Schnorrer, die Touristen gegen ein Mittagessen oder mehr ihre wie auch immer gearteten Dienste anbieten. Dieser Junge schien dem Paar anders zu sein als die anderen, so ließ es sich auf ein Gespräch ein, ließ sich von dem 18-Jährigen sogar in sein Heimatdorf einladen und dort auf den Hof seiner Familie.

Auf diesem Hof lebten 24 Personen - Modous Mutter, Geschwister, Onkel und Tanten. Man zeigte Kropps den Dorffriedhof, den Fußballplatz und den Community-Garten, dessen Parzellen jedes Jahr neu unter den Familien verlost und in dem Obst und Gemüse angebaut wurden. Fische holte man aus dem Meer, aus dem Wald das Holz für die Feuerstellen vor den armseligen Hütten. Im nahegelegenen Fadjikunda besuchten Anett und Uli Kropp die Schule, in der Modou lernte, bereits in der 9. Klasse - bis zu dieser Klassenstufe muss in Gambia für den Schulbesuch nicht bezahlt werden. Der Direktor bestätigte Kropps, Modou wäre in der Lage, nach drei weiteren, nun allerdings kostenpflichtigen Jahren ein gutes Abitur zu erwerben. Woraufhin die Eheleute beschlossen, Modou diese Jahre zu finanzieren.

Zurück in Deutschland, abends am Küchentisch. Sie schauen sich um: Was für ein Luxus, was für Schnickschnack sie hier umgibt! Anett und Uli Kropp überlegen, wie sie Modous Familie und das Dorf unterstützen können. Sie notieren, was gebraucht wird, schaffen die ersten Dinge an, beginnen, bei Freunden und Bekannten zu sammeln. Per Schiffscontainer wollen sie die Hilfsgüter nach Gambia schicken, eine Frau aus Luckenwalde soll ihn dort in Empfang nehmen. Daraus wird nichts. So fliegen sie 2009, dreieinhalb Wochen nach Auslaufen des Schiffes, noch bevor dieses sein Ziel erreicht, erneut selbst nach Gambia, besorgen dort alle nötigen Unterlagen, öffnen den Container, laden den Inhalt auf einen Lkw, bringen ihn in Modous Dorf und verteilen dort die Gaben: Schulmaterial, Kinderkleidung, einen Generator zur Stromerzeugung ... Das schreibt sich so hin, das liest sich so weg - als seien solche Aktionen ein Spaziergang. Doch sie sind wirkliche Abenteuer.

Ehemann Uli hatte sich noch am Tag des Fluges nach Gambia bei einem Sturz den Fuß gebrochen und im Schweriner Krankenhaus einen Gips verpasst bekommen. Der Rat der Ärzte: den Fuß nicht belasten, zu Hause auf dem Sofa ruhen. Uli ist natürlich geflogen, bei der Ankunft in Gambia war das Bein schrecklich angeschwollen, er konnte keinen Schritt mehr laufen. Anett brachte das Kunststück fertig, den Gips mit der Nagelschere zu öffnen; sie sah ein geschundenes Bein, das in Rot und Blau und Grün und Gelb und Violett leuchtete wie ein Gemälde von Picasso. Sie erzählt, was diese Farbexplosion nach sich zog: »Da Hämatome auf dunkler Haut kaum zu sehen sind, war mein Mann natürlich die Sensation im Dorf. Alle Frauen kamen mit Säckchen und Salben gelaufen, dann brachten sie ihn zur Heilerin. Die war gerade vom Feld gekommen, eine Frau mit solchen Muskeln, Uli wurde ganz weiß im Gesicht, als sie das Bein anhob und begann, seine Zehen langzuziehen. Anschließend hat sie ihn massiert, und anders als unsere Ärzte in Deutschland ordnete sie Bewegung an, weil das Blut zirkulieren müsse. Tatsächlich konnte Uli bald wieder ohne Krücken gehen.« So was erlebt man nicht in Schwerin.

Beeindruckt davon, wie wenig es braucht, den Menschen in Gambia das Leben etwas zu erleichtern, wollten Kropps einen Verein gründen. Als sie zu dem Schluss kamen, sie wären damit überfordert, entstand die Idee, unter dem Dach der AWO ein Ehrenamtsprojekt zu etablieren. Inzwischen arbeiten in dem Projekt acht Mitarbeiter, die mehr als 60 Patenkinder betreuen. Vier Container wurden nach Gambia verschifft, zwei nach Togo. Denn auch auf Togo hat das Projekt »Nebenan in Afrika« auf Anregung eines Mitarbeiters seine Unterstützung ausgedehnt. Sowohl in Gambia als auch in Togo will das Projekt »Hilfe zur Selbsthilfe« geben. Eine schöne, Jahrzehnte alte Idee, die gelegentlich funktioniert hat.

Da kleine Kinder in Gambia nur ihre Stammessprache sprechen, aber der Schulunterricht in der Amtssprache Englisch stattfindet, hat das Land Vorschulen eingerichtet, um die englische Sprache zu vermitteln. Von diesen Vorschulen gibt es nur wenige, und die in der Nähe von Modous Dorf wurde in der Regenzeit 2009 nahezu vollständig zerstört. Es fehlt an qualifizierten Lehrern und Erziehern ebenso wie an Lehr- und Anschauungsmaterial. Das wollen die Schweriner ändern. Sie wollen ein neues Gebäude errichten, die Vorschule mit Lehrmaterial ausstatten, eine Bibliothek aufbauen und Unterstützung durch deutsche Fachkräfte organisieren. Außerdem, weil Fußballspielen das einzige Freizeitangebot für Kinder und Jugendliche ist, haben sie sich vorgenommen, den Trainern eine Ausbildung zu ermöglichen. In Modous Dorf ist man begeistert von den reichen, guten Deutschen. Als Modou zwei weitere Schwestern bekommt, nennt die Mutter sie Anett und, nach einer weiteren Projektmitarbeiterin, Angelika.

Auch in Togo geht es um eine neue Vorschule. Dort ist die Amtssprache Französisch. Ein Hilfscontainer in die Hauptstadt Lomé wurde letztes Jahr auf den Weg gebracht. Erreichen die Hilfscontainer ihr Ziel, müssen Projektmitglieder vor Ort sein. Sie nehmen dafür ihren Jahresurlaub. Und den verbringen sie manchmal so: Weil der Container am 27. März 2014 den Hafen in Lomé erreichen soll, kündigen sieben Projektmitglieder, unter ihnen Anett und Uli Kropp, der Reederei ihre Ankunft für den 25. März an. Sie haben den Urlaub eingereicht und die Flüge gebucht. Die Reederei benachrichtigt sie, dass sich die Ankunft des Containers verschiebt - zunächst nur um ein paar Tage, dann um eine Woche. Auch die Helfer müssen nun den Urlaub verschieben und die Flüge umbuchen. In Nigeria wird der Container auf ein kleineres Schiff umgeladen, das man in Lomé vom 12. bis 18. April auf Reede legt. Die Vereinsmitglieder, die am 8. April in Lomé eingetroffen sind, haben für den 19. die Rückflüge gebucht. Sie müssen erneut umbuchen und ihren Urlaub per E-Mail verlängern. Am 19., 20. und 21. April ist Ostern und der Hafen geschlossen. Am Dienstag, dem 22. April, ist der Verantwortliche für die Freigabe des Containers seinerseits im Urlaub. Am Mittwoch wird der Container freigegeben, sein Inhalt muss noch gescannt werden. Am Donnerstag dürfen sie die Hilfsgüter abholen, aber der Lkw, der sie weitertransportieren sollte, steht nicht mehr zur Verfügung. Als sie abends einen neuen Lkw aufgetrieben haben, schließt der Hafen. Am Freitag stattet der Präsident dem Hafen einen Besuch ab, weshalb der für die Öffentlichkeit gesperrt bleibt; erst am Abend können sie den Lkw beladen … Die Geschichte ist noch viel länger, aber besser wird sie nicht.

Ein Jahr Togo, ein Jahr Gambia. Gerade ist Anett Kropp aus Gambia zurückgekehrt. Schon wieder sind die Räume, in denen sie Hilfsgüter lagert, gut gefüllt. Mit Fahrrädern, Rollstühlen, T-Shirts, Brillen, Spielzeug, Verbandskästen, Nähmaschinen, Computern, Taschen, Rucksäcken, Schulsachen, Schaukeln, Kleinmöbeln. Man hat Anett Kropp vorgeworfen, wenn sie solche Dinge wie T-Shirts schickt, nehme sie den afrikanischen Schneidern die Arbeit. Anett Kropp sagt: »Das glaube ich nicht. So ein T-Shirt hält nicht lange, nach zwei Jahren blitzt Loch an Loch. Sie haben nur Kernseife und kaltes Wasser zum Waschen, die Sonne tut ein Übriges.«

Im vergangenen Jahr zu Pfingsten erhielten Kropps einen Anruf aus Lampedusa: Modou, der sein Abitur in der Tasche hat, die Ausbildung in der Gastronomie jedoch abbrach, war happy in Europa gelandet. Kropps waren enttäuscht und erschrocken: Er hätte in Gambia eine gute Chance gehabt. Geld, um das er sie bat, um nach Deutschland zu kommen, mochten sie ihm nicht zukommen lassen. Gambia gilt als sicheres Land, und Modou ist Wirtschaftsflüchtling - man würde ihn zurückschicken. Seitdem sitzt der Patensohn in einem italienischen Lager fest und bereut dort seinen Schritt. Er hat während der Flucht ein Trauma erlitten: Im Senegal sah er Tote in der Wüste, und drei seiner Mitflüchtlinge überlebten die Fahrt übers Mittelmeer nicht. Schiebt man ihn nach Gambia ab, wird er dort als »Loser« gelten.

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