Große Reise ins Mittelkleine

Zum Tode der Schriftstellerin Gabriele Wohmann

  • Hans-Dieter Schüt
  • Lesedauer: 3 Min.
Über fünfzig Jahre Schreibleben, über hundert Bücher, zahlreiche Stücke, Hör- und Fernsehspiele. Der private bundesdeutsche Alltagskosmos als Spiegel einer Gesellschaftswerdung. Werdung und Verkrustung.

Ideologie stärkt den Willen und schwächt den Verstand – und das Böse ist nicht interessanter, sondern einfach nur leichter zu erzählen. Gabriele Wohmann sah auf diesen Konfliktfeld ihr Korn wachsen: Wie kann der Mensch bewusster, willentlicher leben, ohne Opfer seiner instrumentell so verführbaren Vernunft zu werden? Wie wird Güte erzählbar, ohne gleich eine gute Welt zu lügen? Und ist ein »böser Blick« (den man ihr immer wieder attestierte), ist also Schonungslosigkeit eine nötige Voraussetzung dafür, dass Gutes entsteht, sich hält?

Über fünfzig Jahre Schreibleben, über hundert Bücher, zahlreiche Stücke, Hör- und Fernsehspiele. Der private bundesdeutsche Alltagskosmos als Spiegel einer Gesellschaftswerdung. Werdung und Verkrustung. Vor allem in meisterlichen Kurzgeschichten über die Verschrobenheit, Verbogenheit, Verlogenheit hinter familiären, statuspflegenden Fassaden. Sarkasmus mit Anteilnahme. Anteilnahme mit angeschlossener Kühlung. Ihre bürgerlichen »Helden« lassen die Behauptung zu: Man kann jeden Menschen in Verruf bringen, indem man ihm irgend eine Tugend unterstellt. Denn die ist meistens angeschafft, ist Übertünchung und Kappenspiel.

Geschrieben hat Gabriele Wohmann unablässig – den daher rührenden Vorwurf, das Schreiben sei bei ihr eine Krankheit, hat sie lächelnd (und weiterschreibend!) gekontert: »Nichtschreiben ist auch eine Krankheit.« Und so pflegte sie auf ihre Art ihr Gesundsein. Diese Art: ätzende Ironie, liebevoller Jargon, hemmungslose Wortschöpfungslust. Ihr Credo: nicht erneuern, sondern vertiefen; keine Tragödie zum bloßen Problem erniedrigen, den Menschen und den Dingen ihren Rang nehmen – um sie zu erhöhen. Die 1932 in Darmstadt geborene Theologentochter – die Eltern waren Nazigegner – studierte Germanistik, Anglistik, Romanistik, arbeitete zunächst als Lehrerin, wurde Mitglied der Gruppe 47.
Ihre Romane: die Krux der antiautoritären Erziehung, diesem Wärme- und Umhegungsdiebstahl, der später kalte Kita-Theologien schuf (»Paulinchen war allein zu Haus«) – ja, wo der Mensch anfängt, zur Emanzipation zu erziehen, gibt er seine Emanzipation auf. Dann die Atomverseuchungsgefahr (»Der Flötenton«), das Weiterleben mit einem Verlustschmerz (»Abschied von der Schwester«), das Schönschlimme und Schlimmschöne des Alterns (»Bitte nicht sterben«). In »Ernste Absicht« bezeichnet sie den Menschen als »ein Unternehmen, das Zeit und was nicht alles gegen sich hat«. Niemand hätte eine Ahnung vom Glück, wenn er nicht im Umgang mit dem Unglück geübt wäre, hat sie einmal gesagt. Und Bücher geschrieben, in denen die großen Worte, gewissermaßen ab Gott aufwärts, so verborgen auftauchen, als gebe es sie nicht. Das Bedeutsame kostümiert sich mit dem Trivialen – Literatur als Findungskommission für die Gewichte hinter den Leichtlebigkeiten und Leichtsinnigkeiten gedankenloser Gewohnheit. Dass Gott fehlt (im Leben), ist nicht neu. Er fehlt, seit wir ihn brauchen. So wie Liebe und Sinn fehlen, wo wir beides dringlich brauchen. Gott, Liebe und Sinn schlicht auszusprechen, als sei alles da – es vertreibt allen Bedürftigen just Gott, Liebe und Sinn. Deshalb spricht Literatur die Dinge so anders aus.

Wohmann lesen: Man summt zuerst schöne Schwünge und wird bald hineingezogen in die von der Erfahrung dressierte Schärfe der Wendungen und präzisen Wahrnehmungen. Sie tröstet nicht, aber sie wendet jeden Hass oder besser: jede Hässlichkeit ins Brüderlichschwesterliche, nicht dagegen. Das ist in Wohmanns Prosa wie eine Rettungsbiegung, wo es doch meist geradewegs in die Abrechnung geht. An der Pinnwand in ihrer Wohnung jahrzehntelang ein Zettel: »Man lebt und weiß den Tod. Alles andere ist Beschäftigungstherapie.« Dass sie einem Buch den Titel gab »Sterben ist Mist, der Tod aber schön« – es belegt Wohmanns Witz mitten im Wahnwitz der Existenz. In einem fiktiven Nachruf auf sich selber schrieb sie von ihrem unbarmherzigen Blick »auf mittelkleine Ereignisse zwischen mittelkleinen Personen. Sie fand dennoch beinah sehr vieles sehr schön. Sie hätte das ruhig mal zugeben können.«
Nun ist Gabriele Wohmann im Alter von 83 Jahren in Darmstadt gestorben.

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