Obama: Das System ist stärker

Vor seiner Trauerrede in Charleston zieht der US-Präsident frustriert Bilanz

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 3 Min.
US-Präsident Barack Obama wird bei der Trauerfeier in Charleston an diesem Freitag eine Ansprache halten. Wie das Weiße Haus bekannt gab, nehmen auch Vize Joe Biden und First Lady Michelle Obama teil.

Das rassistische Massaker an neun Afroamerikanern in einer Kirche in Charleston (South Carolina) hat Barack Obama zu einer Bilanz seiner Präsidentschaft bewogen. Obama, der an diesem Freitag die Trauerrede für die Opfer des 21-jährigen weißen, geständigen Attentäters Dylann Roof halten wird, nahm bei einer Veranstaltung des Führungsgremiums der Demokratischen Partei in Kalifornien eine Wertung darüber vor, wie er als Präsident versucht habe, das politische System Washingtons zu ändern - und scheiterte.

»Ich bin frustriert, und auch Sie haben allen Grund, frustriert zu sein, weil der Kongress nicht so arbeitet, wie er es sollte«, sagte Obama und gab damit ein Gespräch mit einem enttäuschten Wähler wieder. »Probleme werden einfach liegen gelassen. Abgeordnete sind mehr damit beschäftigt, Hahnenkämpfe auszutragen als Probleme zu klären.« Das liege nicht daran, dass die einzelnen Abgeordneten schlecht seien, zitiert die »Washington Post« den Präsidenten, sondern weil die Machtstrukturen »Kurzfristigkeit und Kurzsichtigkeit, Polarisierung, Verzerrung und Spaltung belohnen«. So energisch er dagegen angekämpft habe, der enttäuschte Wähler habe recht: »Das System ist nach wie vor defekt. Aber ich habe ihn auch daran erinnert, dass ich 2008 bei meiner ersten Kandidatur nicht versprochen hatte, ich würde das System reparieren. Ich habe damals gesagt, wir können es reparieren. Ich habe nicht gesagt: ›Yes, I can.‹ Ich habe gesagt - was? Genau: ›Yes, we can.‹«

Obamas Bekenntnis, gewiss, rückte die eigene Person in bestmögliches Licht. Das wird bei Freund wie Feind Widerspruch wecken. Dennoch bleibt unübersehbar, wie sehr sein kämpferischer Optimismus müdem Pragmatismus gewichen ist. Vor allem die völlige Erfolglosigkeit seiner Appelle an den Kongress, die Schusswaffenlobby in die Schranken zu weisen, sowie die wachsende Zahl besonders schwerer und opferreicher Massaker aus rassistischen Motiven während seiner Amtszeit im Weißen Haus tragen zu seinem Frustresümee bei. Chris Cillizza von der »Washington Post« bündelte es so: »Die sieben Jahre Obama-Präsidentschaft erinnern uns alle daran, dass das politische System größer, mächtiger und zugleich mehr aus den Fugen ist, als dass es ein Einzelner heilen könnte. Das ist die harte Lektion, die Obama bekommen hat.«

Der prominente schwarze, aus South Carolina stammende Bürgerrechtler Jesse Jackson (73) - ein Gefährte, oft von Obama enttäuscht - hat das jüngste Massaker in einen größeren US-amerikanischen Rahmen gerückt. Im britischen »Guardian« erklärte der Präsidentschaftskandidat der Demokraten von 1984 und 1988: »Die Schüsse von Charleston sind das Resultat von institutionalisiertem Rassismus, von Jahrhunderten der Entmenschlichung und anhaltender Verweigerung wirtschaftlicher und politischer Chancengleichheit. Im Moment ist jeder über die Todesschüsse entsetzt, doch es herrscht kein ebenso großes Entsetzen darüber, dass Afroamerikaner die höchste Rate an Kindersterblichkeit und Arbeitslosigkeit, verwehrten Zugangs zu Kapital und Bankkrediten, bei Haftzeiten, Gettowohnungen und Zwangsräumungen, bei getrennten und benachteiligten öffentlichen Schulen, bei Armut, bei Herz-, Leber- und Zuckerkrankheit sowie von Aids und anderen Leiden aufweisen.« Dagegen müsse gemeinsam und »unter einer Führung mit Vision für Rassengerechtigkeit« vorgegangen werden, wenn der »›politische Völkermord‹, dem die Afroamerikaner in den Vereinigten Staaten seit fast 400 Jahren ausgesetzt sind«, beendet werden solle.

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