Jeder kleine Raum ein Land

In Prag fand zum 13. Mal die internationale Quadriennale der Theaterkünste statt

  • Eberhard Keienburg
  • Lesedauer: 5 Min.

Prag im Juni: wie immer überfüllt von Touristen , aber jetzt markiert durch Türme hochgestapelter Stühle - in der Altstadt, auf der Kleinseite, vorm Rudolfinum, an der Karlsbrücke, überall: knallblau mit knallrotem Schild, darauf das Kürzel »PQ 2015«, das auf die Prager Quadriennale hinweist. Alle vier Jahre wird in der Moldaustadt die weltgrößte Ausstellung der Bühnen- und Kostümbildner und der Theaterarchitektur ausgerichtet - bis zum Ende vergangener Woche wieder unübersehbar. Schon die Erfindung der Quadriennale grenzte einst an ein Wunder, erst recht ihre Kontinuität, auch ihre diesjährige Wiederkehr. Vor allem aber ist dies alles ein unschätzbares Verdienst der tschechischen Gastgeber.

Zusammen mit dem Internationalen Theaterinstitut (ITI) luden sie 1967 erstmals Theaterausstatter aus aller Welt ein - mitten im Kalten Krieg. Und die kamen aus zwanzig Ländern: Ost und West, Sowjetunion, USA, England, Frankreich, Japan, beiden Deutschlands … Erfunden wurde die Quadriennale einerseits als fachspezifisches Fenster zur Welt, zum Zweiten aber auch, um gegen Aufrüstung und feindliche Diplomatie die andere, die wunderbare Welt des spielenden Menschen, der spielerischen Erfindung und Kraft zu setzen. Damals war das ein unglaubliches Wagnis. Und es erneuerte sich immer wieder durch wechselnde Zeiten: Prager Frühling, Auflösung der politischen Blöcke, Terror der Wirtschaftspolitik.

Obwohl sie nun auf den großen Eisen-Glas-Pavillons aus der Brüsseler Weltausstellung als Zentrum ihrer Ausstellung verzichten mussten, organisierten die Prager die immer wachsende Schau auch in diesem Jahr neu. Das ist das aktuelle Wunder. Die Länderbeiträge waren diesmal verteilt auf 14 Ausstellungsorte der Innenstadt, dazu viele Plätze für Performance, Vorträge, Vorführungen, Diskussionen. Über 70 Länder aus allen Erdteilen - selbst Macau!, selbst die Philippinen! - brachten ihre Beiträge mit alten und neuesten Spielideen und mit Studentensektionen, reiche und arme Länder, auch aus Regionen mit Krieg, Terror, Armut, Hunger - getreu dem olympischen Ruf »Dabeisein ist alles!«

Und bei diesem Weltereignis sollte das reiche Kulturland Bundesrepublik fehlen? Der Skandal stand jedenfalls dicht bevor: Sämtliche bisherigen öffentlichen Geldgeber der BRD (außer der sympathisierenden Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft) hatten alle Zuschüsse verweigert. Umso größerer Respekt gebührt deshalb dem kleinen Bund der Szenografen (Bühnen- und Kostümbildner). Er kämpfte, zunächst ohne finanzielle Mittel, den fast aussichtslosen Kampf um die deutsche Beteiligung, entwickelte ein Ausstellungsprojekt und bekam im letzten Moment dann doch noch eine kleine Unterstützung vom Auswärtigen Amt.

Sein Projekt war jetzt im Kafkahaus zu sehen. Von Beginn an verfolgte es die Idee, die einmalig dichte deutsche Theaterlandschaft in ihrer Fülle zu zeigen - aber auch, wie sie politisch durch verordnete Fusionen, Schließungen, Finanzkürzungen grausam bedroht ist. Frei im Raum stand also ein Wolkenobjekt aus rund 1300 Bildpostkarten von etwa 135 Ausstattern. Wie ein Protest-Tornado erhob es sich vom Fußboden hoch in den blauen Raum. Die einzelnen Kunstideen der Bühnenleute sind hier untergeordnet dem einen großen »J’accuse!«, dem zornigen Aufschrei. Hoffentlich war das für viele Zuschauer erkennbar. Fast wünschte ich mir die Botschaft noch schreiender.

Um unseren Beitrag herum in den vier Etagen des Kafkahauses unzählige Länder- bzw. Studentensektionen. Die Enge, zuerst als Notlösung befürchtet, erwies sich am Ende doch als Gewinn durch Konzentration. Jeder kleine Raum ein Land - eine Welt der Bühnenkunst mit ihren aktuellen Tendenzen.

Dass ein übergeordnetes Anliegen, eine Haltung, ein Biss unserer Spiele wichtiger ist als individuelle, auch geschmäcklerische Kunsterfindung - das ist die neue große Sinngebung der Quadriennale 2015. Erzwungen durch Gegenwart, wurde sie teils schmerzhaft sichtbar: Armenien, hier fast benachbart mit der historisch verfeindeten Türkei, thematisierte mit berührend schönen schwarz-weißen Kinderfotos das umstrittene Thema Völkermord; Uruguay mit unkommentiertem bunten Plastikmüllberg: unsere Wegwerfwelt. Der Aufschrei »SOS Venezuela« erschreckte inmitten aller Kunst mit krasser Realität: lebensgroß im engen Kasten auf dem Boden ein erschossener Demonstrant, verblutet, die Patronen dicht dabei, er hatte gerade »Libertad« als Losung geschrieben. SOS Venezuela - da wird jedes Kunstgetüftel Nebensache. Einer der signifikantesten Beiträge: Russland erinnert mit »Meyerholds Traum« an seinen berühmten Theatermann, der (obwohl Anhänger der Revolution) mit seiner »Biomechanik« in Gegensatz zu Stalins Politik geriet und 1940 hingerichtet wurde.

Andere Beiträge mit Fotos und Modellen interessierten, weil sie eigene Lösungen für altbekannte Stücke vorstellen, die Denkarbeit also beurteilbar wird. So überraschte Georgien mit strenger, klarer Lösung für Kleist, Shakespeare, Rossini. Natürlich gehen besonders viele Studentenarbeiten mit unbefangenen, jungen Ideen an alte Stoffe: Die Schule in Sofia zeigte »Macbeth« und den »Sommernachtstraum«, Taiwan Büchners »Woyzeck« mit strengen Raumwirkungen, Ägypten Brecht, Maeterlinck, Beckett - aber auch Traditionelles aus der Türkei, aus Bulgarien (Puppentheater), aus Indien. Die ungarischen Studenten schrieben an die Wand: »Ohne finanzielle Unterstützung«. Erstaunlich, wie viele wirtschaftlich arme Länder ihre Räume aufwändig, komfortabel, interessant aufgebaut hatten. Mancher gut dotierte Beitrag, etwa der aus den USA, blieb indessen schick und belanglos.

Rund um die Ausstellungshäuser das große Rahmenprogramm - eine Elf-Tage-Wunder-Theater-Welt in Prag. Eine Welt der guten Gedanken, die aber die Gegenwart nicht vergessen lässt. »What a wonderful world!«

Eberhard Keienburg war von 1974 bis 2001 Ausstattungsleiter und 1. Bühnenbildner am Deutschen Theater Berlin.

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