Am Ende überlebt Peter, der minderjährige Sohn von Katharina und Eberhard von Globig. Ein in sich gekehrter Tüftler, »still wie die Mutter, ernst wie der Vater«. Mikroskop und Bleistift sind seine Waffen, die Welt zu erobern; seine angegriffene Gesundheit bewahrt ihn vor dem Zugriff der Hitlerjugend und des Volkssturms. Der neue Roman von Walter Kempowski (Foto: dpa) endet mit der Frage: »War nun alles gut?« Die Frage geht an den Leser, doch fraglich bleibt, ob der 1929 in Rostock geborene Autor oder Peter, der sein jüngerer Bruder sein könnte, sie stellt. Der raunende Geist der Erzählung gibt der in kräftigen Farben kolorierten Handlung mit Hilfe eines Lutherworts als Motto die Richtung an: »Bei dir gilt nichts denn Gnad' und Gunst, /die Sünde zu vergeben, /es ist doch unser Tun umsonst, /auch in den besten Leben.«
Wir sind im Winter 1945 unweit von Mitkau, einer fiktiven Kleinstadt in Ostpreußen. Die Front rückt näher und bedroht den idyllischen Georgenhof mit seinen Menschen und Tieren, im Schutz alter Eichen. So fangen Märchen an. Das Grauen, die Angst, das Verhängnis nehmen von Seite zu Seite zu. In Abwesenheit des Gutsherrn Eberhard von Globig, der an die italienische Front abkommandiert wurde, ist seine Frau, die schöne dunkelhaarige Katharina, die Herrin des Hauses. Sie liebt die Abgeschiedenheit in ihrem Zimmer, das niemand betreten darf. Sohn Peter wird dem Privatlehrer und »Hagestolz« Dr. Wagner überlassen, der ein wenig zu auffällig die Knaben den Mädchen bevorzugt. Die Tagesgeschäfte im Georgenhof besorgt das »Tantchen«, eine resolute Schlesierin, die zu gern wüsste, was Katharina in ihrem Zimmer treibt. Das »Tantchen« hält sich schadlos und kommandiert die »Ostarbeiterinnen« Vera und Sonja, die wie der Pole Wladimir freiwillig zur Arbeit ins »Dritte Reich« gekommen sind. Aber kann man ihnen in diesen Tagen trauen? Im Umkreis des Guts gibt es Franzosen, Rumänen und Italiener. Katharina scheut das Gespräch mit ihnen nicht. Ach, Italien. Da war sie einmal mit ihrem Mann, in den guten alten Tagen, da von Globig, dieser Spross wilhelminischen Beamtenadels, sein Geld in englischen Stahlaktien angelegt hatte und eine rumänische Reismehlfabrik finanzierte. Und Katharina, diese »schwarze Schönheit«, kehrt zu einer anderen Erinnerung zurück, einem Ausflug an die Ostsee an der Seite des derzeitigen Bürgermeisters von Mitkau, Lothar Sarkander, ein Mann mit steifem Bein und Schmissen an der Wange. War es ein Ehebruch, damals, als Herr von Globig seine Frau nicht zur Olympiade nach Berlin mitnehmen wollte? Wir werden es so genau nicht erfahren, doch die eingestreuten Schlagertexte sagen es uns auf ihre zweideutige Art.
Sarkander hält als Bürgermeister seine schützende Hand über Katharina und die ihren. Denn Parteigenosse Drygalski riecht Unrat im Hause Globig. Die Leute sind ihm zu fein, zu bürgerlich. Wer kommt denn da zu ihnen ins Haus?
Der Georgenhof, von der anrückenden Front bedroht, beherbergt immer wieder neue Besucher. Kempowskis aus vielen Romanen vertraute, mit wenigen Strichen typisierte Galerie skurriler Figuren findet hier eine amüsante, an Fontane und Thomas Mann erinnernde Fortsetzung. Jeder verdrängt die Angst vor der Zukunft mit den immer gleichen Erinnerungen und mit dem Tick einer fixen Idee von den Fähigkeiten, die ihn am Leben halten, sei es Briefmarken sammeln, die Kenntnis klassischer Malerei oder Musik. Schon kommen die ersten Flüchtlinge auf dem Weg in Richtung »Westen«. Ein baltischer Baron belegt mit seiner Familie wie selbstverständlich die Zimmer des Hauses. Katharina sträubt sich gegen die Vorstellung, alles im Stich zu lassen und zu ihrer Berliner Verwandtschaft ziehen zu müssen.
Dann überschlagen sich die Ereignisse. Pfarrer Brahms, der den Nazis jeden Segenswunsch verweigert hat, bittet Katharina, einen Verfolgten für eine Nacht aufzunehmen und zu verstecken. Sie zögert. Ein Mann in ihrem Zimmer? Der Verfolgte ist Erwin Hirsch, der als Jude dem Tod im Lager zu entkommen sucht. Mit einemmal öffnet sich, auch für den Leser, der Abgrund des Krieges und des nationalsozialistischen Wahns inmitten der Idylle dieser »das Schicksal meisternden Menschen«, die sich mit dem Lied vom Wunder, das eines Tages geschehen wird, trösten.
Katharina wird verhaftet, als Hirsch gefasst und verhört wird. Drygalski hat seinen großen Auftritt. Das »Tantchen« schließt sich mit Peter und dem Kutscher Wladimir dem Treck an, auf ein rettendes Schiff hoffend. Wie es den Fliehenden am Haff ergeht, das wissen wir aus den Dokumenten der Zeitgeschichte, die Kempowski seit 1993 in seinem »kollektiven Tagebuch« unter dem Titel »Echolot« gesammelt hat. Der jüngste Roman »Alles umsonst« zeugt von der Unruhe Kempowskis, die »Fuga furiosa« seiner Collagen mit der Imagination des Romanciers zu überbieten. Auffällig ist die Abkehr des Autors von den Spiegelbildern der eigenen Biografie. Seine berühmten Romane aus der Kriegs- und Nachkriegszeit, diese deutschen Chroniken »aus großer Zeit«, wie »Tadellöser & Wolff« (1971) oder »Ein Kapitel für sich« (1975), beziehen ihre Glaubwürdigkeit, ihren Witz und ihre Lesbarkeit aus der Nähe zum Autor, der seinen Leser quasi beim Nachmittagskaffee mitteilt, wie es bei ihm Zuhause aussah. Auf den ersten Blick ist in »Alles umsonst« der Autor ein diskreter Arrangeur seiner Figuren. Doch dann entdeckt man die heimliche Mitgift, die Kempowski seinen Figuren vermacht. Peters Neugier für den Makro- und Mikrokosmos seiner Umgebung, Dr. Wagners Eifer, seine Chronik der Zeit zu retten, das Konservieren einer goldgerahmten Vergangenheit, die Beschwörung des Zeitkolorits aus Schlagern und Gedichten - Kempowskis Leser finden auch in diesem Roman vertrautes Gelände.
War nun alles gut? Ein deutsches Schicksal ohne Schuldzuweisung? Ein Tun, nach Luther, umsonst auch in einem redlichen Leben? Kempowskis Roman stellt Fragen, die nicht nur in diesen Wochen die Gemüter beunruhigen. Wer Beispiele braucht, eine Antwort zu finden, wird diesen Roman lesen.
Walter Kempowski: Alles umsonst. Roman. Knaus. 384 S., geb., 21.95 EUR.
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