Der Weg das Ziel? Blödsinn

»Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße« - ein neues Stück von Peter Handke

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Hatte Eduard Bernstein Unrecht? Ist der Weg gar nicht das Ziel? Das Ziel ist die Weglosigkeit meint Peter Handke in seinem neuen Stück »Die Unschuldigen, Ich und die Unbekannte am Straßenrand«.

Überzeugten Menschen zuzuhören, mag interessant sein, aber wirkliche Gespräche kann man einzig nur mit Skeptikern führen - der Preis der Freiheit besteht in einer fortwährenden Abtrünnigkeit. Freiheit ist also Schwerstarbeit. Idiotenarbeit. Theatergestalten Peter Handkes sind von solcher Idiotie. Sind freiwillig Verstörte, die den Mut haben, sich der anmaßenden Dürftigkeit des Schwarms zu entziehen. Lebenskunst sozusagen als eine Art Selbsteinkrümmung, bei der man zu sich selber kommt; eine Alternative zu jener zweifelsfreien Selbstbevorzugung, bei der man, von außen gesteuert, nur immer weiter außer sich gerät.

Widerspruch, Einspruch ist heutzutage also weit härter gegen die Existenz-Schlauen zu richten als gegen die Leistungs-Dummen. Was die Schöpfung ins Verborgene gesetzt hat, ins Natürliche, ins Ungezwungene - das hütet der Idiot und schützt es vor den Übergriffen zentraldemokratischen Heilsformeln wie etwa Transparenz, Öffentlichkeit, Aufklärung. Schützt es vor den Übergriffen jener Modernen, jener Mehrheitsbeschaffer und Mehrheitsbeschaffenen, die bei Handke deftigst beleumundet werden: »Hundsfotte … Tätowierte Schwimmlehrer … Menschgewordene Fischgrätmuster ... Rundinformierte … Freiheitsliebende ... Horizonträuber! ... Gotteskrieger … Friedenssoldaten!... Existenzuntergraber … Ihr ... ewig Heutigen! ... Ihr … halblustigen Unernsten … Ihr … Unberührbaren … Ihr … Unbesiegbaren … Ihr … Unbeleckten … Ihr … Unablenkbaren … Ihr … Unguten!«

So zu lesen im neuen Stück von Handke: »Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße«. Der Untertitel: »Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten«. Es spielt sich ab auf einer verlassenen Landstraße im verkehrstoten Irgendwo. Jenes Ich, das sich in eine weich, bedachtsam erzählende sowie in eine dramatisch schimpfende, aufbrausende Seele gespalten weiß und die Scharen der »Unschuldigen« vorüberziehen sieht - dieses Ich bilanziert: »Es ist eine Zeit, als wisse man, als wüsstet ihr alles vom anderen. Als sei lückenlos alles zu wissen. Und zugleich ist es eine Zeit, da man nichts mehr, gar nichts mehr weiß vom anderen, auch gar nichts mehr wissen will.«

Ein Blick auf die Landstraße: ein Blick auf tote Seelen zwischen Arbeits- und anderen Unorten. Wir. Und wir zeigen meist bloß noch unser vernichtetes, müdes, mit lauter Vollbeschäftigung, also mit Leere verklumptes Gesicht - wir sind auf unserer Soll-Strecke und haben zugleich einen Stempel in Leib und Seele, als seien wir lediglich zur Strecke Gebrachte. Einsam gemeinsam.

Es ist wie in Handkes Stück »Untertagblues«, da war es nicht die Straße, da war es die U-Bahn: eine Invasion der Unsympathen, der geistlos polternden Frohnaturen und der trüben »Aktenschlepper und Füllfederhinhalter«, der Feintuer, der »Zwischenraumersticker und Perspektivenverdränger«, der Döner-Fresser, der Brüllkinder, der Lümmler und Gitarrenklimperer, der vielen »verdammten Unvermeidlichen« also, mit ihrer »aufgeplusterten Leibhafigkeit«. Gegen solche vermeintlichen Unschuldsengel, also »Unschuldsteufel«, gegen diesen Nah-Verkehr der »Jetzthorden« kann nur ein poetischer Protest aufgeboten werden. Wie ja überhaupt gegen alles Übermächtige nur immer hilft, der eigenen Ohnmacht wenigstens einen schönen, holzwegschwingenden Ausdruck zu geben. Der diese Ohnmacht nicht ändert, aber sie lügend aushaltbar macht. Bis wir die Schwäche und das Ausgeliefert-Sein als Kraft empfinden, so, als seien sie eine (idiotische!) Möglichkeit, ja, seien gar: Emanzipation. Nicht aus Stärke gehen wir ins Kino oder ins Theater, sondern wegen des Defizits zwischen uns und der Welt. »Ich sah jemanden mit äußerstem Einsatz spielen, und dachte: Ja, so muss man sein«, hat Peter Handke einmal geschrieben, und so auch spielt sein Ich im neuen Stück, spielt die Freiheit des Blitzeschleuderns inmitten schierer Wetterlosigkeit.

Ein Road Movie des wütenden wie weiten Herzens. Das Ich: der traurige Clown - der an der Welt verzweifelt, weil er sich nach ihr sehnt. Im lauten Zorn bebt die ganz, ganz stille Erinnerung an eine (nie gewesene?) Zeit, in der Menschen noch Energie hatten, sich zu beruhigen. Dieser frenetische Angreifer, dieses Ich, ist ein erstickter Flehender, so wie jeder Hassende in seiner brennenden Anmaßung ein abgewiesener Liebender ist. Scharfe Erkenntnis und ein zartes Gleiten der verletzten Empfindungen bilden ein faszinierendes Gefüge.

Handkes Spiel mit der Konsequenz: Was wäre denn, wenn die Welt leer liegen würde? Spiele ohne Spielverderber? Träumer ohne Traumverächter? Also Widerspruchsamputation? Die Hölle! Freiheit von Sätzen ohne Gegensätze? Schlimmste aller Diktaturen. Handke, der Einsamkeitspoet, bleibt Weltumarmer, dem sich schließlich sogar »ein Fenster im Asphalt« auftut. Er singt letztlich ein hohes Lied auf die untilgbare Zwiesprache zwischen all den krass Auseinanderstrebenden dieser Welt. Nichts lässt sich unters Diktat reiner Schönheit zwingen. Der Dichter als Märchenerzähler, als beharrend Sehnender. Der nicht Wirklichkeiten gegeneinander zwingt, sondern sie wünschend, aus- und weitermalend, überschreitet. Der in Zeitrissen Heimat versucht.

Die Straße: ein Weg ins Gemeinsame fernab des politischen Getöse- und Einmischfiebers; der Traum: die Menschen nicht mehr meinungsbefeuert, geschichtsgeladen, eingriffsinfiziert, zungenfertig ohn’ Unterlass. Theater als schönes Bedrängtsein durch eine Seh-Weise, in der seit eh und je Zeit und Schwelle und Gehen und Sphäre und Verwandlung und Niemandsland, ja: was?

Herrschen? Nein. Es gibt Worte, die können nicht herrschen, so, wie die Feststellung falsch ist, dass Frieden herrsche. Poesie gegen die Nachbarschaftskrieger, die Lichtungsbesetzer, die sehnigen oder klapprig-trotzigen Lebensdurchmarschierer, die Zeit- und Raumdurchblicker, die Gesetzeskenner und Antwortabonnenten, die unter Weltverstehen nur immer eines meinen: Leben auf der klügeren Seite eines Widerspruchs, dort, wo man sich durch Wahrnehmungen nicht aus der Ruhe einer einzigen Wahrheit bringen lässt. Handke preist das schöne Ereignis, irgendwie unverwendbar (unverwundbar) zu werden fürs Nützliche.

Die deutschsprachige Dramatik ist das Feld der unverwandten Geheimtipps und älter und älter werdenden jungen Autoren. Botho Strauß, Volker Braun, Hans Magnus Enzensberger - wen von den alten Versiegten und Versiegenden könnte man überhaupt noch benennen, mit dem Seufzer: Ach ja, Dramatiker einst, begehrend aufgeführt und weiter und weiter aufgeführt. Und wer überhaupt liest heute noch Bühnenstücke? Dies hier ist kein Stück. Es ist ... ja, was?

Bereits angekündigte Aufführungen (Wien, München) werden das Theater - Handkes bevorzugtes Programm seit jeher - an Grenzen zwingen. Sprache ist hier kein Finden von Worten - nein, Schreiben ist bei Handke: von Wörtern überrascht werden; dem Überraschungswort im nächsten Satz ins Wort fallen; sich hinter einem Komma in Nebensätze verlieren wie in einen Wald; den Seitensträngen eines Gedankens nachgeben; freudig oder verzweifelnd verästelt bleiben; einen Gedankenstrich zu Hilfe holen, ein Semikolon dazwischen gehen sehen und sich wundern, woher plötzlich die Fragezeichen kommen; dann einen Punkt machen - um daraufhin einen Doppelpunkt alles wieder für offen erklären zu lassen. Bewahrungsgefühl. Wanderempfinden.

Weltweite im Straßengraben. »Die summende Luft über der Straße, wie über Prosperos Insel. - Der Weg ist das Ziel: Blödsinn. Herrliche Weglosigkeit, endlich.«

Peter Handke: Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten. Suhrkamp Verlag Berlin. 178 S., br., 20 €.

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