Die dunkle Vergangenheit des Dr. Eufinger

Die Ärzte-Organisation DGPPN zeigt Schicksale von Opfern und Tätern des »Euthanasie«-Programms der Nazis

  • Siegfried Schmidtke
  • Lesedauer: 3 Min.
Über 200 000 Kranke und Behinderte wurden während der NS-Diktatur ermordet, die Täter waren Mediziner. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie stellt sich ihrer Vergangenheit mit einer Ausstellung.

Der 1932 in Dresden geborene Maler und Bildhauer Gerhard Richter (»Richter-Fenster« im Kölner Dom) und der Komponist Karl-Heinz Stockhausen (1928-2007) gehören zu den bedeutendsten deutschen Künstlern nach dem Zweiten Weltkrieg. Nahezu unbekannt: Beide verloren Familienangehörige durch das sogenannte Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten. Opfer der Nazis waren kranke und behinderte Menschen. Die Täter: Ärzte, vor allem Psychiater und Neurologen, und das Pflegepersonal in Heimen und Kliniken.

Unter dem Titel »erfasst, verfolgt, vernichtet« hat die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) das Schicksal zahlreicher kranker und behinderter Menschen in der Nazi-Zeit in einer Wanderausstellung aufgearbeitet. Sie ist derzeit im bayerischen Günzburg zu sehen - im Bezirkskrankenhaus.

Ab 1934 wurden psychisch Kranke und Menschen mit Behinderungen vom nationalsozialistischen »Gesundheitswesen« systematisch erfasst und verfolgt. Rund 400 000 Menschen wurden gegen ihren Willen sterilisiert, mehr als 200 000 in den damaligen Anstalten ermordet. Zahlreiche Ärzte, überwiegend Psychiater und Neurologen, vergaßen oder verdrängten damals den hippokratischen Eid (»…zum Nutzen der Kranken …«), der bis heute als Ehrenkodex der Ärzteschaft gilt.

In diese Vernichtungsmaschinerie geriet auch Gertrud Stockhausen, die Mutter des heute weltbekannten Komponisten. Sie galt wegen ihrer Depression als psychisch krank. Eine Diagnose, die damals einem Todesurteil gleich kam. Im Mai 1941 wurde sie in der Tötungsanstalt Hadamar in Mittelhessen Opfer des systematischen Krankenmordes der Nazis.

Das gleiche Schicksal widerfuhr Marianne Schönfelder, der Tante von Gerhard Richter, des derzeit wohl »teuersten« deutschen Künstlers. Sie wurde als Geisteskranke mit der Diagnose »Schizophrenie« zuerst zwangssterilisiert und schließlich 1945 durch NS-Ärzte ermordet. Einer der Täter war der SS-Obersturmbannführer und Chefgynäkologe der Dresdner Frauenklinik, Heinrich Eufinger (1894-88). Nach Kriegsende verlor Eufinger zunächst seine Approbation als Arzt und war bis 1948 im Lager Mühlberg interniert. Doch ab 1949 - vermutlich als Dank für die Rettung der Frau des sowjetischen Lagerkommandanten - durfte Eufinger wieder als Gynäkologe arbeiten. Bis 1956 in der DDR, ab 1957 in der BRD.

Dann ein geradezu tragischer Schicksalsverlauf: Gerhard Richter, der Neffe von Marianne Schönfelder, heiratete 1957 Heinrich Eufingers Tochter Ema - ohne Kenntnis, dass sein Schwiegervater an der Ermordung seiner Tante beteiligt war. Erst im Jahr 2004 erfuhr der Künstler von den unglaublich anmutenden Zusammenhängen.

Heute gehört Richters Bild »Tante Marianne« aus dem Jahr 1965 zu seinen bekanntesten Bildern. Aber auch seinen Schwiegervater Heinrich Eufinger hat der nichts ahnende Künstler auf seinen Gemälden abgebildet - zum Beispiel bei einer fröhlichen Szene am Strand.

DGPPN-Vorstandsmitglied Professor Frank Schneider erklärt zum Anliegen der Wanderausstellung: »Die DGPPN stellt sich ihrer Vergangenheit. Denn ohne die Initiative und Unterstützung von Psychiatern und anderen Ärzten hätte das nationalsozialistische ›Euthanasie‹-Programm nicht in die Tat umgesetzt werden können.«

Die Ärzte-Organisation zeigte die Ausstellung in diesem Jahr bereits auf internationalen Psychiatertreffen in Toronto/Kanada und Osaka/Japan. Im Juni war die Wanderausstellung beim Landschaftsverband Rheinland (LVR) in Köln zu sehen - mehr als 2000 Besucher wurden dort gezählt. Nach derzeit Günzburg und anschließend Aachen soll ab Spätherbst Naumburg in Sachsen-Anhalt Ausstellungsort sein.

Termine der Ausstellung »erfasst, verfolgt, vernichtet«: bis 28. Juli 2015 im Bezirkskrankenhaus Günzburg/Bayern; ab 28. August bis 25. Oktober im Centre Charlemagne in Aachen/NRW, ab 5. November 2015 im Saale-Unstrut-Klinikum in Naumburg/Sachsen-Anhalt; www.dgppn.de/dgppn/geschichte/nationalsozialismus/wanderausstellung

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