Mit allen Sinnen berichten

In der Biographischen Schreibwerkstatt Marzahn entstehen spannende Lebensgeschichten

  • Steffi Bey
  • Lesedauer: 3 Min.
Einmal im Monat treffen sich eine Handvoll Frauen und Männer zur Biographischen Schreibwerkstatt in Marzahn. Dort lernen sie, ihr bisheriges Leben in spannende Geschichten zu verpacken.

Fernab vom Straßenlärm, ganz oben in der Artothek der Mark-Twain-Bibliothek, ist scheinbar die richtige Atmosphäre, um in die Vergangenheit einzutauchen. Der Raum hat hohe Fenster, davor steht ein langer Tisch, an dem sieben kreative Menschen Platz nehmen. Drei von ihnen kommen in diesem Sommer zum ersten Mal zum Kurs.

Dea, eine Frau Anfang 40, gehört dazu. Auch Horst, der 81-jährige Ur-Berliner ist neu dabei, ebenso Dietmar, dem seine 71 Jahre nicht anzusehen sind und Petra, die ihre grauen Haare zu einem Zopf zusammengebunden hat. Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe, die erst auf den zweiten Blick viel verbindet. Denn so unterschiedlich ihre Lebensgeschichten auch sind, alle wollen davon der Nachwelt berichten: den Kindern, Enkeln und Urenkeln.

»Ich hoffe, dass ich hier das Handwerk des Schreibens erlerne«, sagt Horst. Viel zu erzählen hat der Senior allemal, aber er weiß eben nicht, auf welche Art und Weise er die Erlebnisse in die richtige Form bringt.

Wie die anderen auch sammelte er bereits erste Schreiberfahrungen. Horst gestaltete sogar schon einige Minibücher für seine Brüder. Den Anstoß, dass er jetzt am Kurs teilnimmt, gaben seine Enkel.

Für Tanja Steinlechner, die in Mitte eine Autorenschule betreibt und seit einem Jahr in Marzahn den Kurs anbietet, ist das ganz typisch. Sie sieht ihre Aufgabe darin, Impulse zu geben: »Um das biografische Textmaterial so aufzuarbeiten, dass daraus spannende Erzählungen werden«, erklärt die Autorin.

Mit verschiedenen Übungen animiert sie die Gruppe zunächst, in den Schreibfluss zu kommen. Automatisches Schreiben nennt sie dieses Ritual, bei dem ein Satz vorgegeben wird, um den die Teilnehmer eine eigene Geschichte spinnen. »Ohne grübeln und denken, notiert einfach das, was euch in den Sinn kommt«, ermuntert sie das Team.

Drei ältere Damen, die schon länger dabei sind, lassen sofort ihre Stifte über das Papier gleiten. Die Neuen fühlen sich dagegen ins kalte Wasser geschmissen. Aber irgendwie reihen letztendlich alle ein paar spannende Sätze aneinander.

Zu einem Höhepunkt der Zusammenkunft entwickelt sich aber die zweite Aufgabe. Die Teilnehmer sollen sich ein Ereignis aus ihrem Leben aussuchen und daraus eine Szene gestalten. »Versucht dabei mit allen Sinnen zu beschreiben«, ermutigt die Kursleiterin.

Nach 20 Minuten ist die Zeit um und jeder Einzelne liest seinen Beitrag vor. Respektvoll und emotional reagieren die Zuhörer. Denn sie tauchen ein in die Welt der anderen. Sie können sich den verzweifelten Horst und seine Mutter vorstellen, als nach Kriegsende die eingelagerten Kartoffeln vollständig erfroren waren. Sie teilen Deas Freude über ihre glückliche Schwangerschaft, nehmen an Antjes erstem Familienausflug in den Westen Berlins teil oder reisen mit Christa nach Syrien an einen ganz besonderen Ausgrabungsort.

Anerkennend wird bei einigen Geschichten auf den Tisch geklopft. Es wird ebenso nachgefragt und besprochen, was noch anschaulicher rüberkommen könnte.

Nach drei Stunden ist zunächst alles gesagt und geschrieben. Die drei Neuen wollen auf jeden Fall wiederkommen. Und auch die anderen freuen sich auf den nächsten Treff. Tanja Steinlechner findet die Teilnehmer talentiert. Christa hat sie sogar animiert, ein Buch zu schreiben: über ihr besonderes Leben in Syrien. Die 62-Jährige wohnt erst seit zwei Jahren wieder in Deutschland. Zuvor war sie mehr als 30 Jahre in dem arabischen Land Zuhause.

Jeden ersten Freitag im Monat findet die Biographische Schreibwerkstat in der Mark- Twain-Bibliothek, im Freizeitforum Marzahn, statt. Nächster Treff: 4. September, 16 bis 19 Uhr. Infos unter 0177 32 16 298.

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