Was es alles gibt in Russland, diesem Riesenland

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Zwei Frauen aus Russland, wie sie die Fotografin Olga Matweewa sah: Nadeschda Kuschnarewa wohnt in Desjatnikowo, einem Dorf in Transbaikalien, schon in der Nähe zur Mongolei. »Semejskie« - so nennen sich dort jene Altgläubigen, die sich seit den Kirchenreformen im 17. Jahrhundert als Bewahrer russisch-orthodoxer Tradition verstehen. Im zaristischen Russland verfolgt, siedelten sie sich in Randgebieten des Imperiums an. Kein Problem sei es für sie, dass es dort noch nie fließend Wasser gab, erzählt Olga Matweewa der Journalistin Wlada Kolosowa, aber das Internet möchte sie nicht missen.

Nastja Ildiz ist Modedesignerin. Mit einer Echse und 48 Katzen - »Sie sind keine Streuner, sie sind Verlassene« - lebt sie in Irkutsk. Viel zu klein für all die obdachlosen Tiere ist ihre Wohnung. Sie wünscht sich Räume für ein richtiges Katzenheim.

Der Fotograf Evgeny Makarov und die Journalistin Jessica Schober sind bei Michail Sadowski (Bild unten) mit hausgemachten Speisen bewirtet worden: Blini, Marmelade, Kräutertee, Honig. Vor einem Feld voller Sonnenblumen lächelt der ehemalige Mitarbeiter des FSB zufrieden in die Kamera. Er hat den Dienst quittiert und ist ins Dorf seiner Kindheit bei Smolensk nahe der belorussischen Grenze gezogen, wo er selbst anbaut, was er und seine Frau zum Leben brauchen.

Von Kaliningrad bis Magadan, von Sotschi bis Jakutsk, von St. Petersburg bis Wladiwostok sind die vier jungen Journalistinnen und Fotografen kreuz und quer durch das riesige Land gereist, haben 26 Städte vorgestellt und die verschiedensten Leute getroffen. Vielfalt will der Band ja vor Augen führen. Allein schon im Religiösen: In Kaliningrad wird der Leiter des Doms (katholisch) porträtiert, in Kasan der Mufti von Tatarstan, in Moskau der Direktor des Jüdischen Museums, auf der Insel Kischi eine gläubig begeisterte Devotionalienverkäuferin vor ihren Heiligenbildchen, in Elista, das liegt nahe der Grenze zu Georgien, das Oberhaupt der Buddhistischen Gemeinde Kalmückiens. Obwohl ich mehrmals in Russland war, von Elista mit dem größten buddhistischen Tempel in Europa hatte ich noch nie gehört.

In Rostow am Don gibt es ein Interview mit dem Ataman der Kosakischen Gemeinde, der seine Säbel zeigt und stolz von den Traditionen dieses Reitervolks erzählt, das im Zweiten Weltkrieg zum Teil auf deutscher Seite kämpfte, aber heute umso mehr den russischen Patriotismus hochhält. Eine Friseurmeisterin im sibirischen Omsk erklärt, dass es für Russland »nichts ewigeres als die Schönheitsindustrie« gäbe. »Ich kaufe lieber kein Brot als eine billige Creme.« Da finden sich genügend andere Frauen im Buch, die sich bei diesen Worten an den Kopf greifen würden. Je weiter man mit der Lektüre vorankommt, umso mehr Facetten bekommt das Bild von Russland. Umweltaktivistin und Bernsteinkünstler, Universitätsdirektor und Tänzerin, Politiker und Unternehmer, Fischverkäuferin und Lehrerin, Schweißer und Kellner, Rettungsschwimmer und Besitzerin eines Pelmeni-Restaurants, Lehrerin und Bergmann, Schauspieler und Sozialarbeiter, ein Stahlwerker und Jelzins einstiger Hausmeister - man staunt, wie die beiden Journalistinnen zu dieser bunten Mischung kamen, wie sie bei jedem ihrer Gesprächspartner suchten und fanden, was interessant ist, bedenkenswert. Freundliche Neugier, Verstehen-Wollen und Verständlich-Machen - diese Haltung ist den Autorinnen zugute zu halten. Aber das Buch ist auf ein Ganzes aus. So fragt man sich nach der Lektüre, ob das hier präsentierte Bild von Russland nicht Blindstellen hat. »Russland ist unfassbar groß, Russland ist anders, Russland ist Vielfalt, und dieses Buch soll dazu beitragen, Verständnis für die Unterschiede und Empathie für unsere russischen Nachbarn zu entwickeln«, so Herausgeber Heino Wiese im Vorwort. Ohne Zweifel: Hinter dem Band steht eine Absicht. Gut gemeinte Pädagogik, um Denkmustern des Kalten Krieges entgegenzuwirken, einer verbreiteten Dämonisierung von Russland, die der Waffenindustrie nützt, ansonsten aber deutschen und europäischen Interessen schadet.

Da mag es für manche Leser schon viel sein, etwas über ein Land zu erfahren, das ihnen total unbekannt ist. Dass da ganz normale Leute wohnen mit ihren so unterschiedlichen Bestrebungen, Erinnerungen und manchmal auch unerfüllbaren Wünschen, Leute, mit denen man sich verständigen könnte, wird anschaulich. Zu wenig jedoch werden jene Divergenzen in Gesellschaftsformen und -auffassungen diskutiert, die deutsche Leser auch befremden können und die in Medien immer wieder eine Rolle spielen. Darum keinen Bogen zu machen, vielleicht sogar Soziologen, Politologen explizit nach Erklärungen zu befragen, wäre Herausgeber und Autorinnen - im Sinne ihres Anliegens - zu raten gewesen. Sie haben viel geleistet, aber manches heiße Eisen haben sie eben nicht angepackt.

Jessica Schober, Wlada Kolosowa: Russland. Menschen und Orte in einem fast unbekannten Land. Fotografien von Olga Matweewa und Evgeny Makarov. Herausgegeben von Heino Wiese. Corso Verlag, 173 S., geb., 24,90 €.

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