Fenster der Seele

Obwohl die Augen des Menschen alles andere als perfekt sind, leisten sie Erstaunliches und bergen zahlreiche Geheimnisse. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.

Im Auge spiegelt sich von außen die Welt, von innen der Mensch«, hielt Johann Wolfgang von Goethe in seinen »Naturwissenschaftlichen Schriften« fest. »Die Totalität des Innern und Äußern wird durchs Auge vollendet.« Auch andere Gelehrte waren voll des Lobes für die, wie sie meinten, perfekte Konstruktion des menschlichen Sehorgans. Manche sahen darin sogar einen Beweis für die Existenz Gottes - sowie ein Argument gegen die Theorie der Evolution.

Selbst Charles Darwin kam gelegentlich ins Grübeln: »Anzunehmen, dass das Auge mit all seinen unnachahmlichen Vorrichtungen durch natürliche Selektion entstanden sei, scheint, ich gebe es offen zu, im höchsten Grade absurd.« Prinzipiell freilich hegte Darwin keinen Zweifel, dass sich das Menschenauge aus einfachen Uraugen entwickelt hat. Doch erst der modernen Biologie blieb es vorbehalten, diesen Evolutionsprozess in groben Zügen zu rekonstruieren. Dabei wurde offenbar, dass von einer Vollkommenheit des Auges keine Rede sein kann. Bevor etwa das Licht auf die Sensoren der Netzhaut trifft, muss es eine Schicht von Nervenfasern passieren, welche letztlich die visuellen Signale ins Gehirn leiten. »Das entspräche einer Kamera, bei der die lichtempfindliche Schicht des Films auf der falschen Seite liegt«, meint der britische Biologe Steve Jones. Einem intellektuell überlegenen Schöpfer wäre ein solcher Fehler sicher nicht unterlaufen. Das ist anders in der Evolution, die gleichsam nicht anders kann, als bei jeder neuen Erfindung an das bereits vorliegende und häufig unvollkommene biologische Material anzuknüpfen.

Dennoch darf man wie Darwin darüber staunen, zu welch grandiosen Leistungen das menschliche Auge fähig ist. Und welche Geheimnisse es birgt. Nehmen wir nur die durch Pigmente gefärbte Blende des Auges, die Iris, auch Regenbogenhaut genannt, deren innerer Rand die Pupille umschließt. Sie weist über 250 Merkmale auf, die in den ersten Lebensmonaten eines Menschen zufällig entstehen und sich danach nicht mehr verändern. Selbst bei eineiigen Zwillingen unterscheiden sie sich. Das heißt, anhand der Flecken, Furchen und Punkte auf ihrer Iris lassen sich Menschen eindeutig identifizieren.

Diese Methode wird heute vor allem in den Hochsicherheitsbereichen von Flughäfen genutzt. Aber auch in Smartphones findet man inzwischen sogenannte Iris-Scanner. Gegenüber der bereits üblichen Authentifizierung durch Finger-Scan bietet die Kontrolle der Regenbogenhaut einen großen Vorteil: Der Nutzer hinterlässt auf der Oberfläche des Touchscreens keine Signatur, die bei Verlust des Geräts dort möglicherweise abgegriffen und missbräuchlich verwendet werden könnte.

Die Augen sagen jedoch nicht nur, wer wir sind, sondern auch, was wir fühlen. Von der deutschen Mystikerin Hildegard von Bingen ist der schöne Satz überliefert: »Die Augen des Menschen sind die Fenster der Seele.« Auch wenn wir dies nicht jederzeit bedenken, handeln wir zumeist danach, unbewusst, versteht sich. Bei Gesprächen schauen wir unserem Gegenüber vor allem in die Augen, in denen sich Gefühle wie Angst, Wut oder Freude spiegeln. Letzteres geschieht selbst dann, wenn Menschen zwanghaft versuchen, ihre Emotionen zu verbergen. Denn die inneren Augenmuskeln werden vom vegetativen Nervensystem gesteuert, das sich nicht willentlich beeinflussen lässt.

Die Verräter unserer Gefühle sind die Pupillen, durch die Licht ins Auge fällt. Ist es draußen hell, verengen sie sich, ist es dunkel, werden sie weiter. Doch auch unter gleichbleibenden Lichtverhältnissen treten solche Veränderungen auf. Bei Menschen, die sich vor etwas ekeln, schrumpfen die Pupillen. Sobald unser Gehirn jedoch nach mehr Informationen oder Aufmerksamkeit verlangt, weiten sie sich. Das ist zum Beispiel bei Angst der Fall, aber auch dann, wenn wir einen anderen Menschen anziehend finden und mehr über ihn erfahren möchten. Flirtende sollten daher stets auf die Pupillen ihres Gegenübers achten. Sind sie klein, besteht wenig Hoffnung, dass der erotische Einsatz zum gewünschten Erfolg führt.

Große Pupillen galten lange als Schönheitsideal, besonders in Italien. Deshalb tropften sich dort viele Frauen den Saft der Tollkirsche in die Augen, um ihre Pupillen zu erweitern. Weite Pupillen signalisieren aber auch Zuverlässigkeit, wie ein Psychologenteam um Mariska Kret von der Universität Amsterdam jetzt nachgewiesen und im Juli 2015 in »Psychological Science« publiziert hat.

Die Wissenschaftler führten 61 Studenten kurze Videoclips vor, auf denen die Augenpartie einer fremden Person zu sehen war, mit der die Studenten ein Wirtschaftsspiel spielten. Hierbei vertrauten sie der fremden Person einen Geldbetrag zum Investieren an, wobei als Gewinn die dreifache Summe in Aussicht stand. Allerdings blieb es allein der fremden Person überlassen, wie viel Geld sie letztlich an die Probanden zurückzahlte. Ergebnis: Wenn die Pupillen der Person im Video sich (zufällig) weiteten, waren die Studenten deutlich häufiger bereit, ihr Geld in unbekannte Hände zu geben, als bei sich verengenden Pupillen. Außerdem passten sie im Laufe des Geschäfts ihre eigene Pupillengröße an die der fremden Person an. Diese erstaunliche Synchronisation ist offenkundig eine evolutionär erworbene Strategie zur gegenseitigen Vertrauensbildung.

»Die Ergebnisse unserer Studie bestätigen die wichtige Rolle, die das menschliche Auge für die soziale Interaktion spielt«, sagt Kret. Kollegen von ihr wollen sogar herausgefunden haben, dass man an der Bewegung der Augen erkennen kann, ob jemand lügt. Danach geht bei einem rechtshändigen Menschen, der die Wahrheit spricht, der Blick nach links oben. Lügt er, wandern seine Augen nach rechts oben. Bei Linkshändern ist es genau umgekehrt. Eine Bestätigung dieses Ergebnisses steht jedoch aus.

Bis heute dient das »Ich schau dir in die Augen, Kleines« auch zu heilpraktischen Zwecken. Stichwort Irisdiagnostik. Bei dieser von der wissenschaftlichen Medizin nicht anerkannten Methode wird ausgehend von farblichen und strukturellen Besonderheiten der Iris auf diverse Krankheiten geschlossen, etwa auf Entzündungen, Bindegewebsschäden oder Stoffwechselstörungen. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass von den Organen des Körpers Nervenbahnen über das Zwischenhirn zur Iris führen und dort gewissermaßen einen Eindruck vom Zustand jener Organe hinterlassen. Studien, die hierzu durchgeführt wurden, erbrachten jedoch kaum befriedigende Ergebnisse. In den Niederlanden sollten fünf erfahrene Irisdiagnostiker aus einer Gruppe von Patienten diejenigen herausfinden, die an einer Gallenerkrankung litten. Nur in jedem zweiten Fall gelang ihnen das. Statt die Augen der Patienten zu studieren, hätten die angeblichen Experten auch eine Münze werfen können. Im Grunde ist das nicht weiter verwunderlich. Denn auf den »Landkarten« der Iris, die Heilpraktiker häufig benutzen, sind die einzelnen Organe teilweise an verschiedenen Stellen eingezeichnet.

Der deutsch-britische Alternativmediziner Edzard Ernst hat vor einigen Jahren alle bisher durchgeführten kontrollierten Studien zur Irisdiagnostik ausgewertet. Sein Resümee: »In keiner Studie konnte die Wirksamkeit der Methode nachgewiesen werden.« Dennoch kommt diese nach wie vor zum Einsatz - als »sanfte« Untersuchung, die, wie es heißt, ohne nennenswertes Risiko sei. Für die Methode an sich mag das wohl gelten. Nur: Da zum Nachweis vieler Krankheiten eine wissenschaftliche Diagnostik unverzichtbar ist, kann der unbedingte Glaube an die Irisanalyse für Patienten durchaus fatale Folgen haben.

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