Enttäuschte Hoffnungen

Facebook und Protest

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Von Twitter- und Facebook-Revolutionen war die Rede, als der Arabische Frühling 2011 so manchen autokratischen Herrscher stürzte. Ohne die neuen sozialen Medien wäre, so vor allem eine Lesart im entwickelten Westen, der Regime Change nicht möglich gewesen. Inzwischen jedoch ist etwas Ernüchterung eingetreten. Waren die sozialen Medien tatsächlich so wichtig? Wie ist zu erklären, dass bei Occupy Wall Street eine anachronistisch anmutende Technik wie das Human Microphone und in Spanien das Besetzen von Plätzen Verbreitung fanden?

Welche Rolle Twitter und Facebook in den Empörungs- und Occupy-Bewegungen spielten - das haben Marianne Kneuer und Saskia Richter untersucht. Die Wissenschaftler an der Universität Hildesheim werteten für einzelne Tage die Kommunikation von je einer relevanten Twitter- und Facebook-Seite von fünf Protestbewegungen aus. Und zwar von den Empörten in Portugal und Spanien sowie von Occupy in New York, London und Frankfurt. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich über den Höhepunkt der Bewegungen im Jahr 2011 auf Monate des nachfolgenden Jahres.

Das wohl interessanteste Resultat: Die hoffnungsvolle Erwartung, dass mit den neuen Medien ein Mehr an demokratischer Beteiligung entstanden ist, wurde enttäuscht. Nicht auf inhaltliche Aspekte bezogen sich die meisten Posts und Tweets, sondern ganz überwiegend auf organisatorische Aspekte des Protestes. Selbst die Annahme, dass »affektive-symbolische Posts« eine bedeutende Rolle spielen, fanden Kneuer und Richter nicht bestätigt bzw. sie stellten fest, dass Emotionen nur im Zusammenhang mit Organisationsfragen wichtig waren.

Und überhaupt war die Gesamtzahl der Interaktionen auf den Plattformen erstaunlich gering im Vergleich zu den Aktivisten auf den Straßen. In Lissabon etwa versammelten sich am 12. März 2011 rund 300 000 Menschen. Die Anzahl der Facebook-Interaktionen betrug an diesem Tag 500, auf Twitter wurde fast gar nicht kommuniziert. Das kann daran liegen, dass die Versammlungen der Menschen auf den Plätzen, das Diskutieren in den Versammlungen (asambleas) weitaus wichtiger waren als die Kommunikation im Netz. Die Autorinnen scheinen das anzunehmen, wenngleich sie zugestehen, dass sich die Kommunikation im Netz auch dezentral, auf von ihnen nicht untersuchten Plattformen und Seiten abgespielt haben könnte.

Interessant ist ferner ihre Einschätzung, dass es sich bei den Empörten und Occupy keineswegs um eine transnationale Protestbewegung gehandelt habe - obwohl die Bewegungen einen globalen Ursprung hatte: nämlich der Widerstand gegen die Spar- und Kürzungspolitik als Reaktion auf die Finanzkrise von 2008. Kommuniziert wurde überwiegend innerhalb der Ländergrenzen, lediglich bei Occupy London und Frankfurt ging es auch mal darüber hinaus - dann jedoch eher mit visuellen Medien. Ein Buch, das Wasser in den Wein der Netzeuphorie schüttet, aber wegen der empirischen Grundlage Fragen offen lässt.

Marianne Kneuer, Saskia Richter, Soziale Medien in Protestbewegungen. Neue Wege für Diskurs, Organisation und Empörung?, Campus Verlag, 234 S., 29,90 €

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