Röntgen gegen Minderjährigkeit

Verfassungsbeschwerde gegen umstrittene Altersbestimmung bei unbegleiteten Flüchtlingen

  • Christine Süß-Demuth
  • Lesedauer: 3 Min.
Tausende junge Flüchtlinge kommen jedes Jahr ohne Eltern in Deutschland an, oft ohne Ausweis. Um ihr Alter zu bestimmen, werden auch umstrittene medizinische Methoden angewandt. Eine Freiburger Anwältin klagt jetzt in Karlsruhe.

Freiburg. Wenn junge unbegleitete Flüchtlinge ohne Ausweispapiere nach Deutschland kommen, werden sie oft medizinisch untersucht, um das Alter festzustellen. Von der Frage, ob jemand schon volljährig ist oder noch nicht, hängt letztlich die Gewährung von Hilfen des Jugendamts ab. Doch diese medizinischen Untersuchungen sind nicht nur bei Flüchtlingsorganisationen, sondern auch unter Ärzten umstritten.

Eine Freiburger Anwältin will gegen eine zweifelhafte Methode zur Altersbestimmung vor dem Bundesverfassungsgericht klagen. Susanne Besendahl vertritt einen 17-jährigen Flüchtling aus Gambia, der zunächst vom Freiburger Jugendamt in Obhut genommen wurde. Nach einer Röntgenuntersuchung des Handwurzelknochens wurde er als volljährig eingestuft und hatte damit keinen Anspruch mehr auf Jugendhilfe.

Rechtsanwältin Besendahl klagt insbesondere gegen die Röntgenuntersuchung, mit deren Hilfe das Alter ihres Mandanten bestimmt wurde. Sie argumentiert, dass die Methode zu ungenau sei und letztlich nur grobe Schätzwerte liefere. »Die Spannweite der Entwicklung in der Pubertät ist sehr groß, Wachstumsprozesse verlaufen unterschiedlich schnell«, sagt Besendahl dem Evangelischen Pressedienst (epd). Sie verweist auch darauf, dass sich der Körperbau auch durch die harten Strapazen der Flucht verändern könne - und somit Personen beim Röntgen älter erschienen, als sie tatsächlich seien.

Auf dem Röntgenbild des Gambiers waren die Wachstumsfugen des Handwurzelknochens geschlossen. Für das Jugendamt stand somit fest: Er ist über 18 Jahre alt und hat keinen Anspruch auf Jugendhilfe. Und dies, obwohl der Junge aus Gambia eine Geburtsurkunde vom Januar 1998 vorweisen konnte. Diese wurde nicht anerkannt, weil sie gefälscht sein könnte.

Besendahl ist sich sicher, dass sie beweisen kann, dass der Flüchtling minderjährig ist. »Im Falle des Jugendlichen aus Gambia wären nur ein paar Telefonate nach Gambia nötig«, sagte die Rechtsanwältin. Sowohl in seiner früheren Schule als auch in der Volleyball-Jugendnationalmannschaft seines Heimatlandes, in der er spielte, gebe es Unterlagen. Mittlerweile liege auch eine Bestätigung der Schule vor, wonach der Flüchtling am 18.1.1998 geboren wurde, also erst 17 Jahre alt ist. Mittlerweile lässt die Stadt Freiburg nach eigenen Angaben keine Alterseinschätzungen mehr durch Röntgen vornehmen.

Der junge Mann ist kein Einzelfall, wie der Bundesfachverband Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge feststellt: Allein in Freiburg seien im vergangenen Jahr 192 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Obhut genommen worden. Davon seien nur 27 Minderjährige in stationäre Jugendhilfeeinrichtungen weitergeleitet worden. »Bei 95 wurde durch eine Alterseinschätzung vermeintlich die Volljährigkeit festgestellt«, teilte der Bundesfachverband mit. Weitere minderjährige Flüchtlinge gelten demnach als vermisst oder wurden von Verwandten aufgenommen. Drei wurden inhaftiert, ein Flüchtling wurde während der Inobhutnahme volljährig.

Zweifel an dieser medizinischen Methode zur Alterfestsetzung hat selbst die Bundesärztekammer. Sie erklärte Ende 2014, »dass Altersschätzungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen durch Knochenröntgen oder Computertomographie medizinisch nicht vertretbar sind und zu diesen Zwecken nicht mehr angewandt werden dürfen«. Aufgrund der internationalen Rechtslage müsse stattdessen ein »ausreichendes Clearingverfahren durchgeführt werden, das sowohl das psychische, physische und soziale Alter des unbegleiteten jungen Flüchtlings erfasst, als auch den daraus resultierenden Jugendhilfebedarf« feststellt.

Im vergangenen Jahr kamen laut dem »Bundesfachverband Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge« etwas mehr als 10.300 unbegleitete Mädchen und Jungen in Deutschland an, etwa 45 Prozent mehr als 2013. Der Fachverband fordert, auch volljährige Flüchtlinge darüber aufzuklären, dass sie sich in allen Fragen weiterhin an das Jugendamt wenden könnten. Hilfen können dem Gesetz zufolge bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt werden. epd/nd

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