Paris, ein ganzes Huhn

Das Schicksal der Anne Frank am Ernst-Deutsch-Theater Hamburg

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Leon de Winter und Jessica Durlacher haben mit Anne Frank als junge Frau eine fiktive Gestalt geschaffen, die der Tagebuch-Dramatisierung »Anne« am Hamburger Ernst-Deutsch-Theater einen wirkungskräftigen Rahmen gibt.

Alle jungen Leute sind unsterblich, und Bücher gibt es, die mit ihrer Kraft ganze Bibliotheken unter sich begraben. »Das Tagebuch der Anne Frank« etwa. Unsterblich die Lebenslust des Mädchens - das heute weit über achtzig wäre. Vielleicht sehr weißes Haar, Brille. Eine Schriftstellerin. Oder wenigstens Journalistin. Das wollte sie werden. Fotos (nur wenige existieren) froren Anne Franks Jugend ein. Sie wurde fünfzehn Jahre alt. Verachtenswerter Widerspruch: Was sie schrieb, wurde berühmt, weil es in schwerster Not zum einzig Leichten wurde, was ihr blieb - und dann das Einzige war, was überhaupt von ihr blieb. Ein weltbekanntes Vermächtnis. Berühmtheit mit einem Preis, den man verfluchen möchte.

Die Unsterblichkeit junger Menschen, dieses Empfinden von Ewigkeit, gründet sich auf einen Überschuss an Leben. Das nur in Steigerungsformen gelebt werden kann. Frech, frei - kein Traum, der nicht umgehend zur Tat ausgerufen würde. Anne Frank träumt auch. Träumt Paris. Träumt in ihrem Versteck Nachkrieg. Die Zeit, da aus dem Mädchen die junge Autorin werden würde. Das Tagebuch als Startkapital? Das Protokoll ihrer verheimlichten Existenz als Bericht eines überstandenen Abenteuers? Jetzt, da alles vorbei ist, darf sogar gelacht werden über das Schlimme, das sie durchlitt. In einem Pariser Café schlingt sie Huhn und Schokolade herunter. Nachholbegierde. Genusshunger. Wir sehen auf der Bühne diese junge Frau - die es nie gab. Denn nur das Bittere überlebte. Als unsterbliche Geschichte. Ein Trost. Kein bisschen Trost.

Dem Deutschen Otto Frank - dem Juden und ehemaligem Bankier - war 1933 eine lebensrettende Instinktleistung geglückt: Er gründet nicht daheim, sondern in Amsterdam eine Niederlassung. Die »Arisierung« der Firma übersteht er listig; seit 1942 im Hinterhaus-Versteck in der Prinsengracht, greift er noch immer in die Arbeit des Betriebes ein. Zwei Jahre später dann die Verhaftung der acht Untergetauchten durch die SS. Auschwitz! Frank wird überleben. Seine Frau indes nicht, Tochter Margot nicht, auch Tochter Anne nicht; nach Bergen-Belsen weitergeschleppt, stirbt sie dort, im März 1945. Niederländer haben der Familie Frank geholfen, andere Niederländer verrieten sie. Ausgleichende Ungerechtigkeit: Das Gute und das Böse bleiben eine Paarung.

Anne als junge Frau. Leon de Winter und Jessica Durlacher schufen mit dieser fiktiven Gestalt einen wirkungskräftigen Rahmen für ihre Tagebuch-Dramatisierung »Anne« am Hamburger Ernst-Deutsch-Theater. Das Tagebuch ist bereits vielfach interpretiert, gelesen, in Kunstgattungen verpflanzt worden. Dass sich jemand einen schlimmstmöglichen Stoff aneignet und dann handwerklich damit umgeht, bleibt noch in lobenswertester Absicht ein Risiko. Denn die Glaubwürdigkeit eines Dokuments entsteht letztlich von selbst. Nicht durch Zusätze. Das Stück von Durlacher und de Winter aber überzeugt. Es offenbart uns Anne als (schreibend) Erzählende, dann wieder übersetzt es das Tagebuch in Spielszenen. Die Inszenierung von Yves Jansen (Bühne: Peter Schmidt) wechselt vom Speicherversteck zum Pariser Straßencafé. Das Spiel ist leise. Irgendwo fällt ein Schuss, die Realität ist plötzlich bedrohlich nah. Das Detail genügt; präzise Auswahl schafft Welt.

Kristin Suckow als Anne behält etwas Schwebendes, Leichtes und Leuchtendes, sie schwingt sich aber ebenso glaubhaft in eine forsche Kantigkeit, zittert sich ins Angstvolle hinein. Die 26-Jährige als 13-Jährige: großartig unaufgesetzt, kein Tümeln, kein Kindeln, kein pubertärer Aufputz. Jessica Kosmalla (die Vermieterin), Jens Wawrczeck (Mitbewohner des Dachbodens), Frank Jordan und Isabella Vértes-Schütter (Annes Eltern): Menschen zwischen zerstörerischem Druck und tapfer bewahrter Würde, zwischen mühsamer Beherrschtheit und Wellen der Nervpeinigung. Aber keine Szene ist mit brennender Sorge aufgeheizt, man könne der Mahnschwere des Stoffes nicht gerecht werden. Just die komödiantische Entschiedenheit, mit der Anne hier träumend den Krieg überlebt, reißt einer Trauer das Fenster auf, aus dem man einen stummen Schrei der Wut über das Unfassbare der Tatsachen zu hören meint.

Anne Frank wurde nicht älter als ihre Hoffnung auf Freiheit. Dass sie als junge Frau auftritt, könnte man fast einen heiteren Gedanken nennen - er rettet die Unschuld hinüber ins schöne Feld der unantastbaren Möglichkeiten. Es ist aber, obwohl die Aufführung witzige Momente hat, kein heiterer Gedanke. Da musste ein Mensch krepieren. Wie Unzählige. An Typhus, der in den Lagern ein Zuarbeiter der Nazis war. Und der Typhus ist es, der Anne in den Wahn treibt, ihr die beschwingten Visionen von Paris eingibt. So wird es im Stück ihr Vater erzählen und damit den (erfundenen) Momenten der Zwanzigjährigen eine zwingende Rechtfertigung und Logik geben.

Annes Tagebuch hat alles durch, was ein einträgliches Werk nur durchmachen kann: Fälschungsanwürfe, Urheberrechtsstreite, Übersetzerfehden, Legendenpflege, Abwertung. Das Buch ist in ersten Ausgaben inhaltlich, stilistisch geschönt worden (auch von Otto Frank) - stets unter dem Sinngebot, das Bild einer Verfolgten erzieherisch rein zu halten. Aber Anne war doch auch - wie diese Inszenierung am größten Privattheater Deutschlands eindrücklich erzählt - ein Wesen, das von ganz anderen Dingen verfolgt wurde: von Pubertät, von ungerechten, widerborstigen, unfreundlichen Wahrnehmungen (etwa gegen die Eltern), so, wie es zu jeder Existenz gehört. Zu jeder Literatur erst recht.

Mit den Jahren und mit den mählichen Öffnungen des Textes fand der wirkliche, unmittelbare Ton des Tagebuches in die Welt. Es durfte mit der Zeit wieder ein inniges menschliches Dokument werden, dann erst antifaschistisches Zeugnis. Zeugnis erst dadurch. Zeugnis durch Innigkeit. Nur so gewinnt politische Kultur unverwechselbare Kraft: wenn sie Leben atmet, und Leben ist Unkorrektheit, Überschuss, Unbekümmertheit. Ein Stück ohne Pädagogik, aber doch ein Lehrstück: Man weiß ja früh im Leben, was und wie viel man von sich vorzeigen darf, kann, soll, muss. Eine Schriftsteller-Existenz ersehnte Anne vielleicht auch deshalb, weil alles Sagbare nur immer die Spitze eines Unsäglichkeitsberges ist. Diesen Bereich des Sagbaren ein wenig zu erweitern, das war ihr ein Traum, ein Bedürfnis, ein Zwang. Und sei’s erst mal durch ein Tagebuch. Das der Anne Frank sagt mehr, als seiner Schreiberin bewusst war: Die Geschichte lehrt uns nie wirklich, was wir tun können, aber sehr wohl, womit wir immer rechnen müssen.

Vorstellungen täglich bis 29. September

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal